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Kunst und Kultur Titel

Inhalt

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Gefühl und Vernunft
Resultate der Reflexion eines Verhältnisses


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Bodo Gaßmann                                                 Drucktext Button

Gefühl und Vernunft

Resultate der Reflexion eines Verhältnisses

          Inhalt

1. Teil

Materialistische Philosophie ist das Denken der Lust Das Recht der Vernunft und ihrer Moral Kritik der philosophischen Anthropologie

2.Teil

Psychologie als Ersatzphilosophie? Der Mythos vom Aggressionstrieb Die Triebstruktur des heutigen Menschen

3. Teil

Kulturindustrie und die Manipulation von Vernunft und Gefühl Vorherrschende Triebstruktur und romantische Liebe Die Triebstruktur der Befreiung

   Literatur

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Materialistische Philosophie ist das Denken der Lust

 Es gibt nichts schöneres als unsere Gefühle. Höchste körperliche Lust liegt im Höhepunkt des Liebesaktes: dem Orgasmus. Die Entdeckung einer neuen wissenschaftlichen Einsicht, vielleicht nach jahrelanger Forschung, erzeugt eine tiefe durch den Geist bewirkte auch sinnliche Befriedigung. Für Aristoteles war das Philosophieren die höchste Glückseligkeit, die auch mit sinnlicher Lust verbunden war (Ethik, S. 29 ff., 70 f.). Von der geistigen Lust bis zur Lust eines vor Vergnügen quietschenden und strampelnden Säuglings, der sich „sauwohl“ fühlt, hat das Gefühl der Lust immer mehr oder weniger Anteil am Glück der Menschen, den höchsten Zustand, zu dem sie fähig sind, weshalb sie das Glück immer auch als etwas Göttliches angesehen oder ihre Lust in einen Gott, also ein Idealwesen, verkörpert haben. Erst das Christentum hat die Götterwelt entsinnlicht und die Lust zu etwas Bösem gemacht.  Mit der Aufklärung und der Befreiung von kirchlichem Dogmatismus und von der Unterdrückung der Sinnlichkeit, die dazu diente die Menschen zu beherrschen, begründete die bürgerliche Philosophie, besonderes der sensualistische Materialismus eine Philosophie der Lust. Die Darstellung von „obszönen Ausschweifungen der Wollust“, um die Lust insgesamt zu verteufeln, wird als „eine Verhöhnung der Natur“ angesehen. La Mettrie beschwört die Lust in seiner Schrift mit dem programmatischen Titel „Die Kunst, Wollust zu empfinden“, wobei er unter Wollust bereits eine kultivierte Art der Lust versteht – im Gegensatz zur rohen Befriedigung der Triebe: „Oh, ihr reinen, ihr edlen Herolde der Wollust, ihr, bei denen die Götter der Liebe in ewiger Schuld stehen, macht, daß die Wollust auch mich beflügelt!“ Für ihn ist sie wie selbstverständlich eine natürliche Eigenschaft des Menschen, die es auszukosten gilt, wenn man nicht um einen wesentlichen Teil seines Menschseins betrogen werden will. „Ja, ihr Glückskinder der Natur und der Liebe, die ihr von jener Gottheit selbst eigens dafür geschaffen wurdet, um einen ihrer würdigen Zweck, will sagen: dem Glück der Menschheit, zu dienen: ihr allein könnt mich inspirieren. Euer Genie gebe mir Kraft und Schwung, erleuchte mich durch die Liebe und öffne mir so das Allerheiligste der Natur! Neuer (aber glücklicherer) Prometheus, laß mich dort das heilige Feuer der Wollust entnehmen, auf daß es in meinem Herzen, als Tempel der Wollust, niemals erlösche! Möge doch endlich Epikur, so wie er im Herzen jedes Menschen lebt, allhier erscheinen! Oh Natur, oh Liebe, könnte ich doch nur die köstlichen Empfindungen, mit denen mich eure Wohltaten erfüllen, in meinen Lobpreisungen eurer Reize treulich zum Ausdruck bringen!“ (La Mettrie: Wollust, S. 19) Das einzige, was der Mensch zum Glücklichsein brauche, sei ein gesunder Körper und ein vorurteilsloser Geist.

La Mettrie

Julien Offray de La Mettrie (1709 - 1751)

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„Der Wollüstige liebt das Leben, weil er einen gesunden Körper und einen freien Geist ohne Vorurteile hat. Er liebt die Natur und bewundert ihre Schönheit, weil er ihren Wert kennt. Gefeit gegen den Überdruß am Leben, versteht er nicht, wie dieses tödliche Gift in die Herzen der Menschen dringen kann. Erhaben über die Launen des Schicksals, ist er selbst sein eigenes Schicksal. Erhaben über den Ehrgeiz, hat er selbst nur den einen: glücklich zu sein. Erhaben über die Fährnisse des Lebens, ist er, als epikureischer Philosoph, frei von Furcht vor Unheil und Tod. Der Baum verliert sein Laub, er aber bewahrt seine Liebe zum Leben. Der Strom erstarrt in der Kälte des Winters, er aber schürt die Gluten des Sommers.“ (A.a.O., S. 80 f.)  Für eine solche Lobpreisung der Lust kann die Vernunft, die in La Mettries physikalischem Materialismus nur Reflexion als Wahrnehmung der Wahrnehmung sein kann, als traditionell metaphysische aber lange genug mit der Unterdrückung der Lust faktisch verschmolzen war, keine Rolle mehr spielen. Mit den vorherrschenden Produkten der Vernunft in der Gesellschaft, einer Vernunft, die bisher immer eine irrationaler Herrschaft war, verwirft La Mettrie die Vernunft überhaupt. „Oh Freude, du Gebieterin über die Menschen und Götter, vor der alles, sogar die Vernunft, null und nichtig wird, du allein weißt, wie sehr mein Herz dich verehrt, welche Opfer es dir gebracht.“ (A.a.O., S. 17)   Vernunft könne lediglich dazu dienen, der Wollust zu ihrem Recht zu verhelfen. „Mögest du, lebendige Göttin, dich der Vernunft nur bedienen, auf daß die Menschen diese vergessen können; auf daß sie mit ihrer Hilfe ihre Freude vermehren und bewußt bejahen; auf daß die kalte Philosophie still schweige und mich anhöre! Ich spüre die Ankunft einer achtbaren Wollust.“ (A.a.O., S. 16 f.)  In dieser Abwertung steckt zunächst einmal die richtige Einsicht, dass das Streben nach Glück und Lust keiner weiteren Rechtfertigung bedarf. Wenn heute vom Sinn des Lebens geredet wird, dann wird gerade dieser Aspekt übersehen. Für eine materialistische Philosophie gibt es keine „Suche nach dem Sinn des Lebens“, das Ziel glücklich zu sein, das immer auch heißt, körperliche Lust zu empfinden, und das damit individuelle Züge trägt, bedarf keiner metaphysischen Begründung aus einem göttlichen oder menschlichen Wesen, „sondern geht aus der Existenz einer nicht weiter zu legitimierenden, sondern nur historisch zu erklärenden Sehnsucht nach Glück und Freiheit für die Menschheit hervor.“ (Horkheimer: Anthropologie, S. 9f.)

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Das Recht der Vernunft und ihrer Moral

 In der Reduktion der Vernunft auf instrumentelle Funktionen, als Dienerin der Lust, trifft sich La Mettrie mit bürgerlichen Denkern wie Hobbes oder Bentham und den ganzen Utilitarismus. In der Abwertung der zwecksetzenden Vernunft geht La Mettrie aber einen Schritt weiter, wenn er sie angesichts der „natürlichen“ Lust für „null und nichtig“ erklärt. Auch wenn La Mettrie kaum gesellschaftliche Verhältnisse in seiner Philosophie theoretisch durchdrungen hat, so korrespondiert diese Reduktion doch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass die Zwecke der bürgerlichen Welt durch einen entfremdeten Mechanismus vorgegeben sind, die menschliche Vernunft nur die denkerischen Mittel bereit stellen kann, sich diesen entfremdeten Zweck geschickt anzupassen. Für das menschliche Glück scheint bei La Mettrie noch nicht einmal ihre instrumentelle Funktion wichtig zu sein. Doch die Verherrlichung der sinnlichen Lust muss sich eingestehen, dass diese Lust ganz ohne Vernunft anscheinend doch nicht auskommt. Sie bedarf der Vernunft, um die Lust zu steigern, sie regrediert zum Autismus, wenn sie ausgeschaltet wird, und vor allem eine losgelassene Lust ohne das Korrektiv der Vernunft tendiert zur Selbstvernichtung – vor allem wenn man die gesellschaftlichen Verhältnisse ausblendet, ist man deren Mechanismen hilflos ausgeliefert.  So kann ein Liebesakt nicht ständig in orgastischen Gefühlen verharren. Es ist „schade, daß die Momente intensiven Glücks – Liebesrausch, Liebestaumel oder wie immer man sie nennen mag – nicht länger andauern und das ihnen ergebene Herz so schnell wieder verlassen.“ „Doch so intensiv auch die Freuden sind, die den Menschen außer sich geraten lassen, so sind sie doch nur Freuden. Erst mit dem herrlichen Zustand, der auf sie folgt, kann die befriedete Seele alle Wohltaten der Wollust in vollen Zügen auskosten.“  (La Mettrie: Wollust, a.a.O., S. 48 f.) Es ist eine höhere Art der Lust, mit dem Anderen zu harmonieren – das aber geht nicht ohne Überlegungen. Wenn man nur vom „ungestümen Drang“ der Leidenschaft beherrscht wird, erzeugt dies bei der Geliebten Abwehrkräfte. La Mettrie gibt deshalb den Frauen den vernunftgeleiteten Ratsschlag: „Ihr Schönen, beurteilt eure Liebhaber nach ihrem Charakter! Er sei das Gewicht auf der Waage eures Herzens. Wenn sie eure Gunst erzwingen wollen; wenn sie euch, ohne Rücksicht auf eure nur zu berechtigte Besorgnis, den unangenehmen Folgen einer leichtsinnigen Leidenschaft aussetzen wollen; dann könnt ihr sicher sein, daß sie es nicht ehrlich meinen; daß es nur ungestümer Drang ist, der sie treibt; daß nicht ihr selbst es seid, was sie an euch am meisten lieben.“ (A.a.O., S. 56)  Gefühle, sollen sie ihre gesamten Möglichkeiten realisieren, bedürfen der Reflexion durch die Vernunft, die in La Mettries materialistischen Philosophie allerdings auch nur eine Art physischer Sinn ist. 

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Die Bedeutung der Vernunft zeigt sich entgegen der Ansicht von La Mettrie auch an der Lust, die auf unserer Fantasie beruht. Da die Gefühle des Menschen immer auch mit seiner „Imaginationskraft“ und entsprechenden inhaltlichen Vorstellungen zusammenhängen, kann der Mensch zwar nicht ohne den Anderen überhaupt, aber ohne seine unmittelbare Gegenwart Wollust genießen, für La Mettrie sogar genauso wie mit dem Anderen. „So genießt der Wollüstige seine Vorstellungen: er erweckt sie, vertreibt die einen und pflegt die anderen, je nach Belieben. Ich weiß zwar nicht, wie die Imagination ihre Farben mischt und woher all die bezaubernden Illusionen kommen, aber das Bild der Freude, das sie erzeugt, ist so schön wie die Freude selbst.“ (A.a.O., S. 57)  Das Zentrum dieser Wollust ist dann die Seele, das Gemüt, das die Sinne  als Fenster zur Welt und das diskursive Denken scheinbar gar nicht mehr braucht. Der Sinn zur Imagination „ist gekennzeichnet durch seine sanfte, aber unwiderstehliche Macht. Er untersagt das Reden, das Schauen, das Hören und das Denken, um der intensivsten der Empfindungen Raum zu schaffen. Er läßt von der Seele und ihren Sinnen nichts mehr übrig, hebt die normalen Funktionen unseres Organismus auf, bemächtigt sich sozusagen des ganzen Menschen und übergibt ihn jenen höchsten Freuden, jener fruchtbaren Stille der Natur, die ein Sterblicher nur bei Strafe des Todes stört. Seine ewige Macht ist, kurz gesagt, so gewaltig, daß die Vernunft, diese hochmütige Göttin, ihm untertan ist. Sie ist, wie all die anderen Sinne, als glückliche Sklavin seinen Freuden stets zu Diensten.“ (A.a.O., S. 60)  Hatte La Mettrie am Anfang die sinnliche Lust mit der Geliebten als das höchste Glück propagiert, so führt ihn die Konsequenz unreflektierter Lust, d.h. einer Lust ohne vernünftige Leitung, zur Negation der sinnlichen Lust und in die autistische Isolation von der Wirklichkeit und den anderen Menschen, die doch Voraussetzung der Wollust sein sollten. Er wird zur fensterlosen Monade. (Vgl. Mensching: Autonomie, S. 194 ff.)  Vernunft ist für La Mettrie selbst nur eine Art Sinn und damit etwas Physisches. Als Physisches enthält sie aber kein Kriterium, um der ebenfalls physischen Lust moralische Schranken zu setzen. Dem Ausleben der Triebe kann die physisch bestimmte Vernunft nichts entgegensetzen. Wenn La Mettrie allen Menschen zugesteht, ihre Triebansprüche zu verwirklichen, dann besteht ständig die Gefahr, vor allem unter bürgerlichen Verhältnissen, dass konkurrierende Triebansprüche in Konflikt geraten. „Subjektive Reflexion der zunächst blind egoistischen Triebe erscheint daher als einzige Möglichkeit, den Widerstreit der Ansprüche zu schlichten. Die Menschen, die als Triebwesen selber Natur sind, können nur durch reflektierende Entäußerung moralisch handelnde Subjekte werden, die Natur in sich zivilisieren. La Mettrie selbst hat die geforderte Leistung auf den Begriff gebracht: 'raffinement de l'amour-propre'. Daraus ergibt sich die zentrale Frage, nach welchen objektiven Kriterien die postulierte Reflexion des Egoismus sich vollziehen soll.“ (Mensching: Autonomie, S. 202 f.)  Wirklich erfüllen kann die Vernunft ihre Rolle als Regulator des physischen Trieblebens nur, wenn sie selbst nicht als physisch bestimmt ist, sondern als geistige gegenüber der Physis eine gewisse Autonomie erlangt. Dieser Gedanke mündet letztlich in Kants praktischen Imperativ.  Die Lust ohne Leitung durch die Vernunft tendiert zur Unersättlichkeit – was La Mettrie positiv bewertet, um sie von der kirchlichen oder bürgerlichen Moral zu befreien. Steigert man aber die Lust ins Unersättliche und zur „wahrhaftigen Ekstase“, dann schlägt sie in Gewalt gegen andere oder den Träger der Gefühle selbst um. Das Umschlagen von Lust in Gewalt macht er am Tyrannen deutlich: „Alsdann, grausamer Fürst! Wenn du infam genug bist: Koste die Tyrannis richtig aus! Genieße sie in vollen Zügen! Denn die leidige Natur wird dich daran nicht hindern. Herostratos wählte, um sich unsterblich zu machen, das Feuer; so wähle du das Blut! Verfeinere die Techniken der Folter, so wie ein rechter Lebemann die des Vergnügens! Und finde daran, sofern dies möglich ist, die gleiche Freude! Böses zu tun ist für dich das einzige Gut, und Gutes zu tun wäre dir eine Qual. Ich werde dir deinen abscheulichen Zwang nicht nehmen (könnte ich es überhaupt?), der die Quelle deines unseligen Glücks ist. Bären, Löwen und Tiger lieben es, andere Tiere zu zerfleischen; da du blutgierig bist wie sie, ist es nur recht und billig, daß du den gleichen Neigungen nachgibst. Dennoch bedaure ich dich, daß du dich so am allgemeinen Elend weidest; doch wer würde nicht erst recht einen Staat bedauern, in dem sich nicht ein Mann fände, der tugendhaft genug ist, um ihn – und sei es auf Kosten seines Lebens – von einem Ungeheuer wie dir zu befreien?“ (La Mettrie: Antiseneca, S. 111 f.) 

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Was bei La Mettrie zwar nicht von dem Standpunkt der Lust her kritisiert wird, aber gegen die Moral verstoßend und durch den Angst erzeugenden Hinweis auf einen möglichen Tyrannenmörder relativiert wird, erscheint in den Romanen des Marquis de Sades scheinbar als gerechtfertigt. Seine Titelheldin und Ich-Erzählerin Juliette prostituiert sich dem Papst und philosophiert mit ihm über das unbegrenzte Ausleben der Gefühle, das ohne irgendwelche Skrupel zu geschehen habe. Nachdem sie mit dem Papst, sie nennt ihn „Braschi“, eine Orgie gefeiert hat, in der „alle ausgesuchten Arten der Ausschweifung“ vorkommen, reflektiert sie mit ihm über die Lust am Morden:   „'Oh, Braschi', rief ich in einem Augenblick der Nüchternheit, 'was würden die Menschen, denen du imponierst, sagen, wenn sie dich inmitten dieser Schändlichkeiten sehen würden?'    'Sie würden mir die Verachtung entgegenbringen, die ich für sie empfinde', antwortete Braschi, 'und trotz ihres Hochmuts würden sie ihre Torheit einsehen. Was soll's, fahren wir fort, ihnen etwas vorzugaukeln. Die Herrschaft des Irrtums wird nicht lange dauern, man muß sie begießen.'    'Ja, ja,' rief ich, 'betrügen wir die Menschen, das ist einer der größten Dienste, die wir ihnen leisten können... Braschi, werden wir, wenn wir in den Tempel gehen, ein paar Menschen opfern?“    'Gewiß', sagte der Heilige Vater zu mir: 'Blut muß fließen, wenn die Orgien gut sein sollen. Da ich auf dem Thron des Tiberius sitze, ahme ich ihn in meinen Wollüstigkeiten nach. Und als den, dessen Seufzer sich mit den jammernden Gesängen des Todes vermischen.'    'Gibst du dich öfter diesen Ausschweifungen hin?'    'Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich mich nicht in sie hineinstürze; oh, Juliette! Es gibt keinen Tag, an dem ich mich nicht mit Blut besudele.' (de Sade: Juliette, S. 180 f.)

de Sade

Cover des Romans "Die Geschichte der Juliette"

 Dass gerade der Papst, der als höchste moralische Autorität gilt, den mörderischen Libertin hergeben muss, ist gewiss mit den aufklärerischen Intentionen von de Sade zu erklären. Indem aber aus der skrupellosen Ich-Perspektive von Juliette erzählt wird, übernimmt der Leser lange Zeit diese Perspektive, erkennt die Funktion der herrschenden Moral, nämlich bloßes Herrschaftsmittel zu sein, und in dieser Episode wie bei La Mettrie als bloßes Ornament der Lust zu fungieren. Die eigentliche Absicht enthüllt sich erst, nach ermüdender Aufzählung von Orgien und Morden, am Schluss des Romans: Juliette, die nur noch Lust empfindet, wenn sie ihre Mordgier immer mehr steigert, ist am Ende völlig vereinsamt, nachdem sie auch noch ihre harmlose und gute Schwester opfert, indem sie diese in ein Gewitter hinaus schickt, um zu sehen, ob der Gott, falls es ihn gibt, die Moralische verschont – ihre Schwester wird vom Blitz erschlagen.

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Aus den Zitaten von Marquis de Sade lässt sich ablesen, dass Gefühle etwas mit der Gesellschaft und ihren Herrschaftsverhältnissen zu tun haben. Der Marquis wehrt sich gegen die Herrschaft seiner Zeit, die ihn eingesperrt hat, indem er ihre Obszönitäten zynisch offen legt. Verstöße gegen die vorherrschende Moral werden in seinen Orgien als zusätzlicher Lustgewinn dargestellt nach dem Motto: Mit der Wonne einer Nonne. Darin zeigt sich die Widersprüchlichkeit der Moral unter herrschaftlich verfassten Gesellschaften. Moral ist hier eine ideelle Existenzbedingung der Herrschaft und zugleich ein Herrschaftsmittel, denn ohne moralische Verankerung der Herrschaft im Bewusstsein würde die Mehrheit gegen die Eigentümer der Produktionsmittel aufbegehren, letztes Auskunftsmittel bliebe nur das unproduktive Schwert. Dies ist der Grund, warum der Papst und Juliette als Mitglieder der herrschenden Klasse Moral nach außen heucheln müssen und ihre sadistische Triebbefriedigung nur im Boudoir pflegen können.  Moral hat aber auch vernünftige Gründe auf ihrer Seite, die jede Art Herrschaft überschreiten. Sie enthält das Versprechen, die menschlichen Beziehungen vernünftig zu regeln und die Triebbefriedigung ohne Schädigung anderer zu organisieren. Im kantischen Imperativ, die Menschen niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich selbst zu behandeln, liegt der moralische Grund, der es verbietet, andere zu bloßen Objekten meiner Triebbefriedigung zu machen, wie die Opfer in de Sades Fantasien. Das Privileg, andere zu Opfern zu machen, und sei es als auszubeutende Lohnabhängige, und die Gestalt vernünftiger Moral bei Kant, sind in der bürgerlichen Gesellschaft unentwirrbar miteinander verquickt. Die kapitalistische Gesellschaft enthält ständig das Versprechen von Gleichheit und Freiheit und verhindert durch ihre Struktur, insbesondere die Eigentumsverhältnisse, die Erfüllung dieses Versprechens. Inwieweit Moral von Herrschaftsverhältnissen getrennt und dann wie selbstverständlich gelebt werden kann, ist ein Frage, die am Schluss dieses Essays erörtert wird.  

Die moralische Notwendigkeit, dass die Vernunft die Gefühle leiten muss, sollen diese das Individuum und seine Gesellschaft nicht zerstören, darf aber nicht ins Gegenteil umschlagen, indem die Gefühle verteufelt werden und die Vernunft zur moralischen Selbstüberhebung wird – bis hin zur Forderung, alle fleischlichen Forderungen soweit wie möglich zu verdrängen und asketisch zu leben. Selbst bei Kant spukt sein christlich-pietistischer Hintergrund bis in seine Auffassung vom Menschen hinein, wenn er dem intelligiblen Charakter des Menschen (die Vernunft bestimmten Handlungen) das Gute zuordnet, den sensiblen Charakter (der Bestimmung der Handlungen durch das Leibliche) mit dem „Bösen“ verbindet. „(...) ein mit praktischem Vernunftvermögen und Bewußtsein der Freiheit seiner Willkür ausgestattetes Wesen (eine Person) sieht sich in diesem Bewußtsein, selbst mitten in der dunkelsten Vorstellung, unter einem Pflichtgesetze und im Gefühl (welches dann das moralische heißt), daß ihm, oder durch ihn anderen recht und unrecht geschehe. Dieses ist nun schon selbst der intelligible Charakter der Menschheit überhaupt und in so fern ist der Mensch seiner angebornen Anlage nach (von Natur) gut. Da aber doch auch die Erfahrung zeigt: daß in ihm ein Hang zur tätigen Begehrung des Unerlaubten, ob er gleich weiß, daß es unerlaubt sei, d.i. zum Bösen sei, der sich so unausbleiblich und so früh regt, als der Mensch nur von seiner Freiheit Gebrauch zu machen anhebt, und darum als angeboren betrachtet werden kann: so ist der Mensch, seinem sensiblen Charakter nach, auch als (von Natur) böse zu beurteilen, ohne daß sich dieses widerspricht, wenn vom Charakter der Gattung die Rede ist; weil man annehmen kann, daß dieser ihre Naturbestimmung im kontinuierlichen Fortschreiten zum Besseren bestehe.“ (Kant: Hinsicht, S. B 318)

Dagegen kann man einwenden, dass die Erfahrung ebenso zeigt, dass die Vernunft in Selbstüberschätzung, „Schwärmerei“ (Kant), Tollheit des Religiösen, als bloßer Formalismus oder in ihrer Reduktion auf instrumentelle usw. von ihrem avancierten Stand abweichen kann und zum „Schlechten“ verleitet. Danach wäre das „Böse“ (nach Kant säkularisiert als Hang zum Unerlaubten) ebenso oft, wenn nicht öfter in der Geschichte durch die „Höllengeburten“ (Goya) der Vernunft verursacht. In Bezug auf die Vernunft kommt alles Schlechte von ihr durch ihre Unbegründetheit, durch ihre unwahre Form, durch sie, insofern sie nicht durch die Folter der Reflexion gegangen ist und sich nicht einer gründlichen Kritik der reinen Vernunft unterzogen hat. Bedenkt man noch das Provisorium der menschlichen Vernunft, ihr nur allmähliches Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit, vor allem insoweit es das Denken des Ganzen, die Philosophie, betrifft, dann ist eine pauschale Abwertung der Gefühle höchst unangebracht. Daran ändert auch nichts die notwendige Leitungsfunktion der Vernunft, denn Gefühle sind nicht selbstreflexiv.

Jeder Triebimpuls bedarf, um in seiner Konsequenz zur Handlung zu werden, des Willens, der diesen Impuls umsetzt. Der freie Wille als geistiges Vermögen kann aber immer die Handlung zulassen oder ablehnen oder überhaupt erst einmal die Richtung der Handlung festlegen. Selbst wenn er dem inneren Drang durch das Leibliche nachgibt, ist das seine Entscheidung, nicht die des Dranges, der grundsätzlich als blind anzusehen ist. Es kommt also nicht nur auf die Triebe an, sondern wesentlich auf die Beschaffenheit des Verstandes und der Vernunft (und selbstverständlich die Kraft des Willens), ob, wie und in welcher Weise ein Trieb sich als Handlung entäußert. Eine Vernunft, die unsere Triebe prinzipiell als böse ansieht und sie unterdrückt, ist dann ebenso falsch wie eine, die allen Triebimpulsen unreflektiert folgt. Faktisch wird bereits in der Kindheit dieses Verhältnis mit mehr oder weniger Rigidität eingeübt, sonst könnte das Zusammenleben überhaupt nicht funktionieren. Schlägt die Sozialisation fehl, dann entstehen die Probleme, die dann Gerichte und Psychologen beschäftigen.

Goya

Angesichts der Gräuel der französischen Besatzungsarmee in Spanien hat Goya dieses Bild gezeichnet mit dem Titel: "Der Traum der Vernunft erzeugt Ungeheuer". Diese Zeichnung war das Titelbild der ersten Nummer der "Erinnyen".

Bei der Untersuchung der Gesellschaft und ihres Einflusses auf die Individuen und ihr Gefühlsleben bleiben diese zunächst abstrakten Überlegungen ein Moment dieses komplexen Verhältnisses von Gefühl und Vernunft.

 Auch La Mettrie, der von der Gesellschaft mehr oder weniger abstrahiert und sie als gegeben unterstellt, ist in seinen Ratschlägen, die Gefühle auszuleben und zugleich zu kultivieren, von dieser Gesellschaft abhängig. Er gehört einem Stand an, der es sich leisten kann, ohne zu arbeiten, seine Lust auszuleben. Zugleich weiß La Mettrie aber auch, dass dies nicht allen Mitgliedern der Gesellschaft wegen ihres Standes möglich ist, obwohl seiner Forderung nach „die Glückseligkeit der ganzen Menschheit“ zukommen sollte. Die Mehrheit gehört als Bauern, Manufakturarbeiter und Tagelöhner dem 3. Stand an, in dem nur das Bürgertum  die Mittel zum Glück besitzt, während die meisten dieses Standes froh sein können, wenn sie nicht hungern müssen. Und selbst die Vermögenden sind durch ihre Charaktereigenschaften, die sie im ökonomischen und politischen Konkurrenzkampf benötigen, unfähig zum Glück. 

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„Das so weit verbreitete Bedürfnis nach Vergnügungen aller Art beweist zur Genüge, daß im allgemeinen die Menschen an sich bzw. organisch eher unglücklich sind als glücklich. Besonders Menschen, deren Talente sehr beschränkt sind, stellen, vor Habsucht, Ehrgeiz, Eitelkeit und Neid zerfressen, unbeschränkte Ansprüche. Ich bedauere dies der Natur wegen; denn es würde ihr meines Erachtens mehr Ehre machen, wenn es anderes wäre. Mehr noch bedauere ich es meiner Brüder, der Menschen wegen; denn es schmerzt mich zu sehen, daß die große Mehrzahl von ihnen gar nicht fähig ist, Glück zu erleben, es sei denn ausnahmsweise einmal und zu einem hohen Preis. Diejenigen, die mit geringen Mitteln glücklich sind, stechen unter den Menschen hervor wie der Fixstern unter den Planeten, wie eine Rose unter Disteln oder wie ein strahlender Diamant unter Glitzersternen. Sie sind rar, daß man sie zählen könnte, während die Zahl derer, in deren Leben die Summe der Übel die Summe der Güter weit übertrifft, unsäglich groß ist. Eine traurige Wahrheit!“ (La Mettrie: Antiseneca, S. 140)  Der Grund für diesen Zustand liegt in der entfremdeten Arbeit. In der sich durchsetzenden bürgerlichen Welt ist Arbeit für die große Mehrheit Lohnarbeit. Das kann auch die Gefühlswelt nicht unberührt lassen. Arbeit und Lohn für die Arbeit fallen auseinander. Der Zweck der Arbeit wird mir vorgegeben, er ist durch den Kapitalmechanismus bestimmt. Während ich 8, 10, 12, 14 oder mehr Stunden arbeite, muss ich meine Triebe und emotionalen Bedürfnisse unterdrücken, während ich meinen Lohn verbrauche und die daraus folgenden bescheidenen Freuden genießen kann, arbeite ich nicht. Die Triebunterdrückung und den Triebaufschub, die mir das Realitätsprinzip, das die Anforderungen der Lohnarbeit in mir repräsentiert, aufherrscht, ist die Bedingung meines „Kampfes ums Dasein“, d.h. meiner abhängigen Beschäftigung zur Sicherung meines Lebensunterhalts.  Das Realitätsprinzip widerspricht – in freudschen Begriffen – dem Lustprinzip, dem Bedürfnis, unmittelbar meine Triebe auszuleben. Ich muss meine Triebregungen unterdrücken, im gewitzigteren Fall „sublimieren“, d.h. die Triebenergien in eine geistige Arbeit ablenken (vgl. Fromm: Therapie, S. 380). Triebunterdrückung oder Sublimierung der Triebe aber sind repressiv, sie deformieren mich. Wenn nun ein wesentlicher Teil meines Lebens in Triebunterdrückung und Triebaufschub besteht, dann hat das Auswirkungen auf meine Gefühlsstruktur, sie wird reduziert, im schlimmsten Fall stumpfe ich ab.  Wenn nun die Gesellschaft entscheidend für die Gefühle der Individuen in ihr ist, dann kann man nicht mehr nur anthropologisch argumentieren, wie La Mettrie es macht, sondern muss die sozialen Bedingungen, die in unser Leben und unser Gefühlsleben eingreifen, reflektieren. Voraussetzung dafür ist aber zunächst einmal eine radikale Kritik der philosophischen Anthropologie. Wie die Kritik der weltlichen Verhältnisse eine Kritik der Religion voraussetzt, die den ordo rerum immer schon als Emanation des Göttlichen festschriebt und legitimiert, so muss auch das statische „Menschenbild“ der Anthropologie kritisiert werden, einer Anthropologie, die nach der Kritik der Religion deren Rollen in der Frühneuzeit übernommen hatte. 

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Kritik der philosophischen Anthropologie

 Gegenposition zu einer Historizität des Gefühlslebens ist die These von einem einheitlichen überhistorischen Menschenwesen, die im 20. Jahrhundert Scheler wieder aufgegriffen hat. Danach gibt es ein menschliches Wesen, das den Kern darstellt, der durch historische Gegebenheiten nur unwesentlich modifiziert wird. Historizität der Gefühlsstruktur und überhistorisches Menschenwesen schließen sich kontradiktorisch aus. Die Widerlegung eines apriorischen menschlichen Wesens wäre eine Begründung seiner Historizität. Nun hat bereits Hegel erkannt, dass jedes Jahrhundert seine eigene Bestimmung des Menschen hat. So ist der Mensch nach Hobbes gewalttätig, misstrauisch und ruhmsüchtig, sein theoretischer Nachfolger John Locke bestimmt ihn eine Epoche darauf als ursprünglich gut und friedlich. Hobbes hatte die historische Erfahrung des Bürgerkrieges in England als Hintergrund, der ihn nach einem absoluten Monarchen rufen lässt; Locke hatte den sich durchsetzenden Parlamentarismus mit eigentumsmäßig begrenzter Volkssouveränität vor sich, den er rechtfertigt. Beide schließen vom Menschen im Naturzustand auf das politische System, das sie für richtig halten. Tatsächlich aber projizieren sie ihre Erfahrung mit dem Menschen ihrer Zeit in einen fiktiven Naturzustand hinein, um damit wieder ihr politisches System zu begründen, das sie anstreben und legitimieren wollen. Das aber ist ein klassischer Zirkelschluss, heute „naturalistischer Fehlschluss“ genannt. Das menschliche Wesen, das apriori sein soll, wird aposteriori gewonnen (Hegel: Naturrecht, S. 445). Was von dem Menschen als allgemeine Bestimmung übrig bleibt, zieht man das historisch Entstandene ab, sind wenig aussagende „anthropologische Konstanten“, wie z.B. dass der Mensch einen Kopf hat mit einem relativ zu den nächsten Verwandten im Tierreich großen Gehirn, dass der Mensch zu großen Gefühlen fähig ist, diese aber auch abstumpfen lassen kann usw. Über das, was er seinen Wesen nach ist, sagen diese allgemeinen Bestimmungen fast nichts aus. Selbst die berühmte Definition von Aristoteles, der Mensch sei ein vernunftbegabtes Lebewesen, kann uns nicht sagen, was denn der Inhalt seiner Vernunft ist. (Kant hat deshalb vorgeschlagen, zu bestimmen, was der Mensch zukünftig im moralischen Sinne sein soll. (Vgl. Kant: Anthropologie, S. 440, und auch den letzten Abschnitt.)

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Wenn aber ein einheitliches Menschenwesen in der Geschichte nicht rational aufweisbar ist, dann kann immer nur etwas über das Typische des Menschen einer Epoche oder einer bestimmten Region ausgesagt werden. Noch Freud, wenn er den unreglementierten Gefühlen die Tendenz zuspricht, „polymorph pervers“ zu sein, unterstellt ein naturgegebenes Wesen des Menschen, denn “pervers“ heißt unnatürlich. Richtig in meinem Sinne wäre der Ausdruck „polymorph variabel“ - was dann erlaubt und was nicht erlaubt ist, wären Bestimmungen historischer Gesellschaften bzw. der Vernunft auf einem historischen Stand. Der Grund, warum die statische Anthropologie trotz ihrer Widerlegung so beliebt war und ist, hat schon Horkheimer erkannt. „Die moderne philosophische Anthropologie entspringt demselben Bedürfnis, das die idealistische Philosophie der bürgerlichen Epoche von Anfang an zu befriedigen sucht: Nach dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Ordnungen, vor allem der Tradition als unbedingter Autorität, neue absolute Prinzipien aufzustellen, aus denen das Handeln seine Rechtfertigung gewinnen soll. Diese Anwendung des Denkens, begriffliche Zusammenhänge zu entwerfen und aus ihnen das ganze menschliche Leben sinnvoll zu begründen, die geistige Anstrengung, das Schicksal jedes Einzelnen und der ganzen Menschheit in Einklang mit einer ewigen Bestimmung zu bringen, gehört zu den wichtigsten Bestrebungen der idealistischen Philosophie. Sie wird vor allem durch den widerspruchsvollen Umstand bedingt, dass in der neueren Zeit die geistige und personale Unabhängigkeit des Menschen verkündet wird, ohne dass doch die Voraussetzungen der Autonomie, die durch Vernunft geleitete solidarische Arbeit der Gesellschaft, verwirklicht wäre. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen tritt einerseits die Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, das „Wertgesetz“, nicht als Motor der menschlichen Arbeit und der Weise, in der sie sich vollzieht, hervor. Der ökonomische Mechanismus wirkt sich blind und deshalb als beherrschende Naturmacht aus. Die Notwendigkeit der Formen, in denen die Gesellschaft sich erneuert und entwickelt und die ganz Existenz der Individuen sich abspielt, bleibt im Dunkeln. Andererseits haben diese Individuen es gelernt, für die gesellschaftlichen Lebensformen, die sie durch ihr tägliches Handeln aufrecht erhalten und gegebenenfalls beschützen, also für die Verteilung der Funktionen bei der Arbeit, für die Art der hergestellten Güter, für die Eigentumsverhältnisse, Rechtsformen, die Beziehungen der Staaten usw. Gründe zu fordern. Sie wollen wissen, warum sie so und nicht anderes handeln sollen, und verlangen eine Richtschnur. Die Philosophie sucht dieser Ratlosigkeit durch metaphysische Sinngebung zu steuern. Anstatt dem Anspruch der Individuen nach einem Sinn des Handelns durch Aufdeckung der gesellschaftlichen Widersprüche und durch Hinweis auf ihre praktische Überwindung zu genügen, verklärt sie die Gegenwart, indem sie die Möglichkeit des 'echten' Lebens oder gar des 'echten Todes zum Thema wählt und dem Dasein tiefere Bedeutung zu geben unternimmt.“ (Horkheimer: Anthropologie, S. 3 f.)

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Die Historizität gilt für das Gefühlsleben und die Triebstruktur genauso wie für die Vernunft, die nicht wie eine bare Münze eingesteckt werden kann, sondern sich durch Argumente und Gegenargumente erst herausbildet. Allerdings enthält die Vernunft im Gegensatz zu den Gefühlen auch ein absolutes Moment, etwa als Logik, und sie kann einen avancierten Stand erreichen, der nicht durch die Verarbeitung aktueller Erfahrungen allein entsteht, sondern die Geschichte der Philosophie und Vernunft seit ihrer Entdeckung im antiken Griechenland und anderswo enthält, also quasi die Reflexion der ganzen Erfahrung, welche die Weltgeschichte hervorgebracht hat. Teilweise gilt letzteres auch für die Triebstruktur, insofern sie ein historisches Produkt ist, also Geschichte enthält – man denke etwa an den romantischen Liebesbegriff, der im Minnesang erfunden, im „Sturm und Drang“ wieder gegen die Konvention propagiert  wurde und sich in der Romantik endgültig als allgemeiner Wunsch in der Vorstellungswelt der jungen Menschen durchgesetzt hat.  Der gerade angewendete Begriff von Vernunft ist hier eine bloße Behauptung und an anderer Stelle begründet (etwa in Hegels „Phänomenologie“ - dazu neuerdings Bensch: Perspektiven des Bewußtseins. Hegels Anfang der Phänomenologie des Geistes). Enthält der avancierte Stand der Vernunft „die ganze Arbeit der Weltgeschichte“ (Hegel), dann kann die Vernunft nicht nur die Dienerin des Gefühlslebens und der Wollust sein wie bei La Mettrie. Sie muss auch ein Bestimmungsgrund der menschlichen Glückseligkeit werden und der sinnlichen Lust ihren Bereich abstecken, in dem sie sich ausleben kann, soweit das Gefühlsleben allgemeine Bestimmungen der Moral benötigt. Und Vernunft muss die historischen Bedingungen reflektieren, die unsere Triebstruktur bestimmen und damit unsere Glücksmöglichkeiten. Die Wissenschaft nun, die sich der Pflege des Gefühlslebens mit ihren Ratschlägen widmen sollte, ist die Psychologie. Doch auch diese ist ständig in Gefahr, ins Ideologische abzugleiten. 

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09.09.2008