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Inhalt
Kleines Manifest zur sozialistischen Filmarbeit
Philosophie und Film/Zur bürgerlichen Filmproduktion/
Film und Propaganda/Soziale Funktion des sozialistischen Films/
Perspektive/Dokumentarfilm/Technik/
Zu den Produzenten/Äußere Einflüsse auf die Filme/Zum Publikum
Zum Text auf unserer Medienseite...
Gefühl und Vernunft
Resultate
der Reflexion eines Verhältnisses
Zum Essay...
Bodo Gaßmann
Gefühl und Vernunft
Resultate
der Reflexion eines Verhältnisses
Materialistische
Philosophie ist das Denken der Lust
Das Recht der Vernunft und ihrer Moral
Kritik der philosophischen
Anthropologie
Psychologie als
Ersatzphilosophie?
Der Mythos vom
Aggressionstrieb
Die Triebstruktur
des heutigen Menschen
Kulturindustrie
und die Manipulation von Vernunft und Gefühl
Vorherrschende
Triebstruktur und romantische Liebe
Die Triebstruktur der
Befreiung
Literatur
Materialistische Philosophie ist das Denken der Lust
Es gibt nichts schöneres als unsere Gefühle. Höchste körperliche Lust
liegt im Höhepunkt des Liebesaktes: dem Orgasmus. Die Entdeckung einer neuen
wissenschaftlichen Einsicht, vielleicht nach jahrelanger Forschung, erzeugt eine
tiefe durch den Geist bewirkte auch sinnliche Befriedigung. Für Aristoteles war
das Philosophieren die höchste Glückseligkeit, die auch mit sinnlicher Lust
verbunden war (Ethik, S. 29 ff., 70 f.). Von der geistigen Lust bis zur Lust
eines vor Vergnügen quietschenden und strampelnden Säuglings, der sich
„sauwohl“ fühlt, hat das Gefühl der Lust immer mehr oder weniger Anteil
am Glück der Menschen, den höchsten Zustand, zu dem sie fähig sind,
weshalb sie das Glück immer auch als etwas Göttliches angesehen oder ihre Lust
in einen Gott, also ein Idealwesen, verkörpert haben. Erst das Christentum hat
die Götterwelt entsinnlicht und die Lust zu etwas Bösem gemacht.
Mit der Aufklärung und der
Befreiung von kirchlichem Dogmatismus und von der Unterdrückung der
Sinnlichkeit, die dazu diente die Menschen zu beherrschen, begründete die bürgerliche
Philosophie, besonderes der sensualistische Materialismus eine Philosophie der
Lust. Die Darstellung von „obszönen Ausschweifungen der Wollust“, um die
Lust insgesamt zu verteufeln, wird als „eine Verhöhnung der Natur“
angesehen. La Mettrie beschwört die Lust in seiner Schrift mit dem
programmatischen Titel „Die Kunst, Wollust zu empfinden“, wobei er unter
Wollust bereits eine kultivierte Art der Lust versteht – im Gegensatz zur
rohen Befriedigung der Triebe: „Oh, ihr reinen, ihr edlen Herolde der Wollust,
ihr, bei denen die Götter der Liebe in ewiger Schuld stehen, macht, daß die
Wollust auch mich beflügelt!“ Für ihn ist sie wie selbstverständlich eine
natürliche Eigenschaft des Menschen, die es auszukosten gilt, wenn man nicht um
einen wesentlichen Teil seines Menschseins betrogen werden will. „Ja, ihr Glückskinder
der Natur und der Liebe, die ihr von jener Gottheit selbst eigens dafür
geschaffen wurdet, um einen ihrer würdigen Zweck, will sagen: dem Glück der
Menschheit, zu dienen: ihr allein könnt mich inspirieren. Euer Genie gebe mir
Kraft und Schwung, erleuchte mich durch die Liebe und öffne mir so das
Allerheiligste der Natur! Neuer (aber glücklicherer) Prometheus, laß mich dort
das heilige Feuer der Wollust entnehmen, auf daß es in meinem Herzen, als
Tempel der Wollust, niemals erlösche! Möge doch endlich Epikur, so wie
er im Herzen jedes Menschen lebt, allhier erscheinen! Oh Natur, oh Liebe, könnte
ich doch nur die köstlichen Empfindungen, mit denen mich eure Wohltaten erfüllen,
in meinen Lobpreisungen eurer Reize treulich zum Ausdruck bringen!“ (La
Mettrie: Wollust, S. 19) Das einzige, was der Mensch zum Glücklichsein brauche,
sei ein gesunder Körper und ein vorurteilsloser Geist.
Julien Offray de La
Mettrie (1709 - 1751)
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„Der Wollüstige liebt das Leben, weil er einen gesunden Körper und
einen freien Geist ohne Vorurteile hat. Er liebt die Natur und bewundert ihre
Schönheit, weil er ihren Wert kennt. Gefeit gegen den Überdruß am Leben,
versteht er nicht, wie dieses tödliche Gift in die Herzen der Menschen dringen
kann. Erhaben über die Launen des Schicksals, ist er selbst sein eigenes
Schicksal. Erhaben über den Ehrgeiz, hat er selbst nur den einen: glücklich zu
sein. Erhaben über die Fährnisse des Lebens, ist er, als epikureischer
Philosoph, frei von Furcht vor Unheil und Tod. Der Baum verliert sein Laub, er
aber bewahrt seine Liebe zum Leben. Der Strom erstarrt in der Kälte des
Winters, er aber schürt die Gluten des Sommers.“ (A.a.O., S. 80 f.)
Für eine solche Lobpreisung der Lust kann die Vernunft, die in La
Mettries physikalischem Materialismus nur Reflexion als Wahrnehmung der
Wahrnehmung sein kann, als traditionell metaphysische aber lange genug mit der
Unterdrückung der Lust faktisch verschmolzen war, keine Rolle mehr spielen. Mit
den vorherrschenden Produkten der Vernunft in der Gesellschaft, einer Vernunft,
die bisher immer eine irrationaler Herrschaft war, verwirft La Mettrie die
Vernunft überhaupt. „Oh Freude, du Gebieterin über die Menschen und Götter,
vor der alles, sogar die Vernunft, null und nichtig wird, du allein weißt, wie
sehr mein Herz dich verehrt, welche Opfer es dir gebracht.“ (A.a.O., S. 17)
Vernunft könne lediglich dazu dienen, der Wollust zu
ihrem Recht zu verhelfen. „Mögest du, lebendige Göttin, dich der Vernunft
nur bedienen, auf daß die Menschen diese vergessen können; auf daß sie mit
ihrer Hilfe ihre Freude vermehren und bewußt bejahen; auf daß die kalte
Philosophie still schweige und mich anhöre! Ich spüre die Ankunft einer
achtbaren Wollust.“ (A.a.O., S. 16 f.) In
dieser Abwertung steckt zunächst einmal die richtige Einsicht, dass das Streben
nach Glück und Lust keiner weiteren Rechtfertigung bedarf. Wenn heute vom Sinn
des Lebens geredet wird, dann wird gerade dieser Aspekt übersehen. Für eine
materialistische Philosophie gibt es keine „Suche nach dem Sinn des Lebens“,
das Ziel glücklich zu sein, das immer auch heißt, körperliche Lust zu
empfinden, und das damit individuelle Züge trägt, bedarf keiner
metaphysischen Begründung aus einem göttlichen oder menschlichen Wesen,
„sondern geht aus der Existenz einer nicht weiter zu legitimierenden, sondern
nur historisch zu erklärenden Sehnsucht nach Glück und Freiheit für die
Menschheit hervor.“ (Horkheimer: Anthropologie, S. 9f.)
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Das Recht der Vernunft und ihrer Moral
In der Reduktion der Vernunft auf instrumentelle Funktionen, als Dienerin
der Lust, trifft sich La Mettrie mit bürgerlichen Denkern wie Hobbes oder
Bentham und den ganzen Utilitarismus. In der Abwertung der zwecksetzenden
Vernunft geht La Mettrie aber einen Schritt weiter, wenn er sie angesichts der
„natürlichen“ Lust für „null und nichtig“ erklärt. Auch wenn La
Mettrie kaum gesellschaftliche Verhältnisse in seiner Philosophie theoretisch
durchdrungen hat, so korrespondiert diese Reduktion doch mit den
gesellschaftlichen Verhältnissen. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass die
Zwecke der bürgerlichen Welt durch einen entfremdeten Mechanismus vorgegeben
sind, die menschliche Vernunft nur die denkerischen Mittel bereit stellen kann,
sich diesen entfremdeten Zweck geschickt anzupassen. Für das menschliche Glück
scheint bei La Mettrie noch nicht einmal ihre instrumentelle Funktion wichtig zu
sein. Doch die Verherrlichung der sinnlichen Lust muss sich eingestehen, dass
diese Lust ganz ohne Vernunft anscheinend doch nicht auskommt. Sie bedarf der
Vernunft, um die Lust zu steigern, sie regrediert zum Autismus, wenn sie
ausgeschaltet wird, und vor allem eine losgelassene Lust ohne das Korrektiv der
Vernunft tendiert zur Selbstvernichtung – vor allem wenn man die
gesellschaftlichen Verhältnisse ausblendet, ist man deren Mechanismen hilflos
ausgeliefert.
So kann ein Liebesakt nicht ständig in orgastischen Gefühlen verharren.
Es ist „schade, daß die Momente intensiven Glücks – Liebesrausch,
Liebestaumel oder wie immer man sie nennen mag – nicht länger andauern und
das ihnen ergebene Herz so schnell wieder verlassen.“ „Doch so intensiv auch
die Freuden sind, die den Menschen außer sich geraten lassen, so sind sie doch
nur Freuden. Erst mit dem herrlichen Zustand, der auf sie folgt, kann die
befriedete Seele alle Wohltaten der Wollust in vollen Zügen auskosten.“ (La Mettrie: Wollust, a.a.O., S. 48 f.) Es ist eine höhere Art der Lust,
mit dem Anderen zu harmonieren – das aber geht nicht ohne Überlegungen. Wenn
man nur vom „ungestümen Drang“ der Leidenschaft beherrscht wird, erzeugt
dies bei der Geliebten Abwehrkräfte. La Mettrie gibt deshalb den Frauen den
vernunftgeleiteten Ratsschlag: „Ihr Schönen, beurteilt eure Liebhaber nach
ihrem Charakter! Er sei das Gewicht auf der Waage eures Herzens. Wenn sie eure
Gunst erzwingen wollen; wenn sie euch, ohne Rücksicht auf eure nur zu
berechtigte Besorgnis, den unangenehmen Folgen einer leichtsinnigen Leidenschaft
aussetzen wollen; dann könnt ihr sicher sein, daß sie es nicht ehrlich meinen;
daß es nur ungestümer Drang ist, der sie treibt; daß nicht ihr selbst es
seid, was sie an euch am meisten lieben.“ (A.a.O., S. 56) Gefühle, sollen sie ihre gesamten Möglichkeiten realisieren, bedürfen
der Reflexion durch die Vernunft, die in La Mettries materialistischen
Philosophie allerdings auch nur eine Art physischer Sinn ist.
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Die Bedeutung der Vernunft zeigt sich entgegen der
Ansicht von La Mettrie auch an der Lust, die auf unserer Fantasie beruht. Da die
Gefühle des Menschen immer auch mit seiner „Imaginationskraft“ und
entsprechenden inhaltlichen Vorstellungen zusammenhängen, kann der Mensch zwar
nicht ohne den Anderen überhaupt, aber ohne seine unmittelbare Gegenwart
Wollust genießen, für La Mettrie sogar genauso wie mit dem Anderen. „So
genießt der Wollüstige seine Vorstellungen: er erweckt sie, vertreibt die
einen und pflegt die anderen, je nach Belieben. Ich weiß zwar nicht, wie die
Imagination ihre Farben mischt und woher all die bezaubernden Illusionen kommen,
aber das Bild der Freude, das sie erzeugt, ist so schön wie die Freude
selbst.“ (A.a.O., S. 57) Das
Zentrum dieser Wollust ist dann die Seele, das Gemüt, das die Sinne als Fenster zur Welt und das diskursive Denken scheinbar gar nicht mehr
braucht. Der Sinn zur Imagination „ist gekennzeichnet durch seine sanfte, aber
unwiderstehliche Macht. Er untersagt das Reden, das Schauen, das Hören und das
Denken, um der intensivsten der Empfindungen Raum zu schaffen. Er läßt von der
Seele und ihren Sinnen nichts mehr übrig, hebt die normalen Funktionen unseres
Organismus auf, bemächtigt sich sozusagen des ganzen Menschen und übergibt ihn
jenen höchsten Freuden, jener fruchtbaren Stille der Natur, die ein Sterblicher
nur bei Strafe des Todes stört. Seine ewige Macht ist, kurz gesagt, so
gewaltig, daß die Vernunft, diese hochmütige Göttin, ihm untertan ist. Sie
ist, wie all die anderen Sinne, als glückliche Sklavin seinen Freuden stets zu
Diensten.“ (A.a.O., S. 60) Hatte
La Mettrie am Anfang die sinnliche Lust mit der Geliebten als das höchste Glück
propagiert, so führt ihn die Konsequenz unreflektierter Lust, d.h. einer
Lust ohne vernünftige Leitung, zur Negation der sinnlichen Lust und in die
autistische Isolation von der Wirklichkeit und den anderen Menschen, die doch
Voraussetzung der Wollust sein sollten. Er wird zur fensterlosen Monade. (Vgl.
Mensching: Autonomie, S. 194 ff.)
Vernunft ist für La Mettrie selbst nur eine Art Sinn und damit etwas
Physisches. Als Physisches enthält sie aber kein Kriterium, um der ebenfalls
physischen Lust moralische Schranken zu setzen. Dem Ausleben der Triebe kann die
physisch bestimmte Vernunft nichts entgegensetzen. Wenn La Mettrie allen
Menschen zugesteht, ihre Triebansprüche zu verwirklichen, dann besteht ständig
die Gefahr, vor allem unter bürgerlichen Verhältnissen, dass konkurrierende
Triebansprüche in Konflikt geraten. „Subjektive Reflexion der zunächst blind
egoistischen Triebe erscheint daher als einzige Möglichkeit, den Widerstreit
der Ansprüche zu schlichten. Die Menschen, die als Triebwesen selber Natur
sind, können nur durch reflektierende Entäußerung moralisch handelnde
Subjekte werden, die Natur in sich zivilisieren. La Mettrie selbst hat die
geforderte Leistung auf den Begriff gebracht: 'raffinement de l'amour-propre'.
Daraus ergibt sich die zentrale Frage, nach welchen objektiven Kriterien die
postulierte Reflexion des Egoismus sich vollziehen soll.“ (Mensching:
Autonomie, S. 202 f.) Wirklich erfüllen
kann die Vernunft ihre Rolle als Regulator des physischen Trieblebens nur, wenn
sie selbst nicht als physisch bestimmt ist, sondern als geistige gegenüber der
Physis eine gewisse Autonomie erlangt. Dieser Gedanke mündet letztlich in Kants
praktischen Imperativ.
Die Lust ohne Leitung durch die
Vernunft tendiert zur Unersättlichkeit – was La Mettrie positiv bewertet, um
sie von der kirchlichen oder bürgerlichen Moral zu befreien. Steigert man aber
die Lust ins Unersättliche und zur „wahrhaftigen Ekstase“, dann schlägt
sie in Gewalt gegen andere oder den Träger der Gefühle selbst um. Das
Umschlagen von Lust in Gewalt macht er am Tyrannen deutlich: „Alsdann,
grausamer Fürst! Wenn du infam genug bist: Koste die Tyrannis richtig aus!
Genieße sie in vollen Zügen! Denn die leidige Natur wird dich daran nicht
hindern. Herostratos wählte, um sich unsterblich zu machen, das Feuer;
so wähle du das Blut! Verfeinere die Techniken der Folter, so wie ein rechter
Lebemann die des Vergnügens! Und finde daran, sofern dies möglich ist, die
gleiche Freude! Böses zu tun ist für dich das einzige Gut, und Gutes zu tun wäre
dir eine Qual. Ich werde dir deinen abscheulichen Zwang nicht nehmen (könnte
ich es überhaupt?), der die Quelle deines unseligen Glücks ist. Bären, Löwen
und Tiger lieben es, andere Tiere zu zerfleischen; da du blutgierig bist wie
sie, ist es nur recht und billig, daß du den gleichen Neigungen nachgibst.
Dennoch bedaure ich dich, daß du dich so am allgemeinen Elend weidest; doch wer
würde nicht erst recht einen Staat bedauern, in dem sich nicht ein Mann fände,
der tugendhaft genug ist, um ihn – und sei es auf Kosten seines Lebens – von
einem Ungeheuer wie dir zu befreien?“ (La Mettrie: Antiseneca, S. 111 f.)
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Was bei La Mettrie zwar nicht von dem Standpunkt der
Lust her kritisiert wird, aber gegen die Moral verstoßend und durch den Angst
erzeugenden Hinweis auf einen möglichen Tyrannenmörder relativiert wird,
erscheint in den Romanen des Marquis de Sades scheinbar als gerechtfertigt.
Seine Titelheldin und Ich-Erzählerin Juliette prostituiert sich dem Papst und
philosophiert mit ihm über das unbegrenzte Ausleben der Gefühle, das ohne
irgendwelche Skrupel zu geschehen habe. Nachdem sie mit dem Papst, sie nennt ihn
„Braschi“, eine Orgie gefeiert hat, in der „alle ausgesuchten Arten der
Ausschweifung“ vorkommen, reflektiert sie mit ihm über die Lust am Morden:
„'Oh, Braschi', rief ich in einem
Augenblick der Nüchternheit, 'was würden die Menschen, denen du imponierst,
sagen, wenn sie dich inmitten dieser Schändlichkeiten sehen würden?'
'Sie
würden mir die Verachtung entgegenbringen, die ich für sie empfinde',
antwortete Braschi, 'und trotz ihres Hochmuts würden sie ihre Torheit einsehen.
Was soll's, fahren wir fort, ihnen etwas vorzugaukeln. Die Herrschaft des
Irrtums wird nicht lange dauern, man muß sie begießen.'
'Ja,
ja,' rief ich, 'betrügen wir die Menschen, das ist einer der größten Dienste,
die wir ihnen leisten können... Braschi, werden wir, wenn wir in den Tempel
gehen, ein paar Menschen opfern?“
'Gewiß',
sagte der Heilige Vater zu mir: 'Blut muß fließen, wenn die Orgien gut sein
sollen. Da ich auf dem Thron des Tiberius sitze, ahme ich ihn in meinen Wollüstigkeiten
nach. Und als den, dessen Seufzer sich mit den jammernden Gesängen des Todes
vermischen.'
'Gibst
du dich öfter diesen Ausschweifungen hin?'
'Es
vergeht kaum ein Tag, an dem ich mich nicht in sie hineinstürze; oh, Juliette!
Es gibt keinen Tag, an dem ich mich nicht mit Blut besudele.' (de Sade:
Juliette, S. 180 f.)
Cover
des Romans "Die Geschichte der Juliette"
Dass gerade der Papst, der als höchste moralische Autorität gilt, den mörderischen
Libertin hergeben muss, ist gewiss mit den aufklärerischen Intentionen von de
Sade zu erklären. Indem aber aus der skrupellosen Ich-Perspektive von Juliette
erzählt wird, übernimmt der Leser lange Zeit diese Perspektive, erkennt die
Funktion der herrschenden Moral, nämlich bloßes Herrschaftsmittel zu sein, und
in dieser Episode wie bei La Mettrie als bloßes Ornament der Lust zu fungieren.
Die eigentliche Absicht enthüllt sich erst, nach ermüdender Aufzählung von
Orgien und Morden, am Schluss des Romans: Juliette, die nur noch Lust empfindet,
wenn sie ihre Mordgier immer mehr steigert, ist am Ende völlig vereinsamt,
nachdem sie auch noch ihre harmlose und gute Schwester opfert, indem sie diese
in ein Gewitter hinaus schickt, um zu sehen, ob der Gott, falls es ihn gibt, die
Moralische verschont – ihre Schwester wird vom Blitz erschlagen.
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Aus den Zitaten von Marquis de Sade lässt sich ablesen, dass Gefühle
etwas mit der Gesellschaft und ihren Herrschaftsverhältnissen zu tun haben.
Der Marquis wehrt sich gegen die Herrschaft seiner Zeit, die ihn eingesperrt
hat, indem er ihre Obszönitäten zynisch offen legt. Verstöße gegen die
vorherrschende Moral werden in seinen Orgien als zusätzlicher Lustgewinn
dargestellt nach dem Motto: Mit der Wonne einer Nonne. Darin zeigt sich die
Widersprüchlichkeit der Moral unter herrschaftlich verfassten Gesellschaften.
Moral ist hier eine ideelle Existenzbedingung der Herrschaft und zugleich ein
Herrschaftsmittel, denn ohne moralische Verankerung der Herrschaft im
Bewusstsein würde die Mehrheit gegen die Eigentümer der Produktionsmittel
aufbegehren, letztes Auskunftsmittel bliebe nur das unproduktive Schwert. Dies
ist der Grund, warum der Papst und Juliette als Mitglieder der herrschenden
Klasse Moral nach außen heucheln müssen und ihre sadistische Triebbefriedigung
nur im Boudoir pflegen können.
Moral hat aber auch vernünftige Gründe auf ihrer Seite, die jede Art
Herrschaft überschreiten. Sie enthält das Versprechen, die menschlichen
Beziehungen vernünftig zu regeln und die Triebbefriedigung ohne Schädigung
anderer zu organisieren. Im kantischen Imperativ, die Menschen niemals bloß als
Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich selbst zu behandeln, liegt der
moralische Grund, der es verbietet, andere zu bloßen Objekten meiner
Triebbefriedigung zu machen, wie die Opfer in de Sades Fantasien. Das Privileg,
andere zu Opfern zu machen, und sei es als auszubeutende Lohnabhängige, und die
Gestalt vernünftiger Moral bei Kant, sind in der bürgerlichen Gesellschaft
unentwirrbar miteinander verquickt. Die kapitalistische Gesellschaft enthält ständig
das Versprechen von Gleichheit und Freiheit und verhindert durch ihre Struktur,
insbesondere die Eigentumsverhältnisse, die Erfüllung dieses Versprechens.
Inwieweit Moral von Herrschaftsverhältnissen getrennt und dann wie selbstverständlich
gelebt werden kann, ist ein Frage, die am Schluss dieses Essays erörtert wird.
Die moralische Notwendigkeit, dass die Vernunft die Gefühle
leiten muss, sollen diese das Individuum und seine Gesellschaft nicht zerstören,
darf aber nicht ins Gegenteil umschlagen, indem die Gefühle verteufelt werden
und die Vernunft zur moralischen Selbstüberhebung wird – bis hin zur
Forderung, alle fleischlichen Forderungen soweit wie möglich zu verdrängen und
asketisch zu leben. Selbst bei Kant spukt sein christlich-pietistischer
Hintergrund bis in seine Auffassung vom Menschen hinein, wenn er dem
intelligiblen Charakter des Menschen (die Vernunft bestimmten Handlungen) das
Gute zuordnet, den sensiblen Charakter (der Bestimmung der Handlungen durch das
Leibliche) mit dem „Bösen“ verbindet.
„(...) ein mit praktischem Vernunftvermögen und Bewußtsein
der Freiheit seiner Willkür ausgestattetes Wesen (eine Person) sieht sich in
diesem Bewußtsein, selbst mitten in der dunkelsten Vorstellung, unter einem
Pflichtgesetze und im Gefühl (welches dann das moralische heißt), daß ihm,
oder durch ihn anderen recht und unrecht geschehe. Dieses ist nun schon selbst
der intelligible Charakter der Menschheit überhaupt und in so fern ist der
Mensch seiner angebornen Anlage nach (von Natur) gut. Da aber doch auch die
Erfahrung zeigt: daß in ihm ein Hang zur tätigen Begehrung des Unerlaubten, ob
er gleich weiß, daß es unerlaubt sei, d.i. zum Bösen sei, der sich so
unausbleiblich und so früh regt, als der Mensch nur von seiner Freiheit
Gebrauch zu machen anhebt, und darum als angeboren betrachtet werden kann: so
ist der Mensch, seinem sensiblen Charakter nach, auch als (von Natur) böse zu
beurteilen, ohne daß sich dieses widerspricht, wenn vom Charakter der Gattung
die Rede ist; weil man annehmen kann, daß dieser ihre Naturbestimmung im
kontinuierlichen Fortschreiten zum Besseren bestehe.“ (Kant: Hinsicht, S. B
318)
Dagegen kann man einwenden, dass die Erfahrung ebenso
zeigt, dass die Vernunft in Selbstüberschätzung, „Schwärmerei“ (Kant),
Tollheit des Religiösen, als bloßer Formalismus oder in ihrer Reduktion auf
instrumentelle usw. von ihrem avancierten Stand abweichen kann und zum
„Schlechten“ verleitet. Danach wäre das „Böse“ (nach Kant säkularisiert
als Hang zum Unerlaubten) ebenso oft, wenn nicht öfter in der Geschichte durch
die „Höllengeburten“ (Goya) der Vernunft verursacht. In Bezug auf die
Vernunft kommt alles Schlechte von ihr durch ihre Unbegründetheit, durch ihre
unwahre Form, durch sie, insofern sie nicht durch die Folter der Reflexion
gegangen ist und sich nicht einer gründlichen Kritik der reinen Vernunft
unterzogen hat. Bedenkt man noch das Provisorium der menschlichen Vernunft, ihr
nur allmähliches Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit, vor allem insoweit
es das Denken des Ganzen, die Philosophie, betrifft, dann ist eine pauschale
Abwertung der Gefühle höchst unangebracht. Daran ändert auch nichts die
notwendige Leitungsfunktion der Vernunft, denn Gefühle sind nicht
selbstreflexiv.
Jeder Triebimpuls bedarf, um in seiner Konsequenz zur
Handlung zu werden, des Willens, der diesen Impuls umsetzt. Der freie Wille als
geistiges Vermögen kann aber immer die Handlung zulassen oder ablehnen oder überhaupt
erst einmal die Richtung der Handlung festlegen. Selbst wenn er dem inneren
Drang durch das Leibliche nachgibt, ist das seine Entscheidung, nicht die des
Dranges, der grundsätzlich als blind anzusehen ist. Es kommt also nicht nur auf
die Triebe an, sondern wesentlich auf die Beschaffenheit des Verstandes und der
Vernunft (und selbstverständlich die Kraft des Willens), ob, wie und in welcher
Weise ein Trieb sich als Handlung entäußert. Eine Vernunft, die unsere Triebe
prinzipiell als böse ansieht und sie unterdrückt, ist dann ebenso falsch wie
eine, die allen Triebimpulsen unreflektiert folgt. Faktisch wird bereits in der
Kindheit dieses Verhältnis mit mehr oder weniger Rigidität eingeübt, sonst könnte
das Zusammenleben überhaupt nicht funktionieren. Schlägt die Sozialisation
fehl, dann entstehen die Probleme, die dann Gerichte und Psychologen beschäftigen.
Angesichts der Gräuel der
französischen Besatzungsarmee in Spanien hat Goya dieses Bild gezeichnet mit
dem Titel: "Der Traum der Vernunft erzeugt Ungeheuer". Diese Zeichnung war das Titelbild der ersten Nummer der
"Erinnyen".
Bei der Untersuchung der Gesellschaft und ihres
Einflusses auf die Individuen und ihr Gefühlsleben bleiben diese zunächst
abstrakten Überlegungen ein Moment dieses komplexen Verhältnisses von Gefühl
und Vernunft.
Auch La Mettrie, der von der Gesellschaft mehr oder weniger abstrahiert
und sie als gegeben unterstellt, ist in seinen Ratschlägen, die Gefühle
auszuleben und zugleich zu kultivieren, von dieser Gesellschaft abhängig. Er
gehört einem Stand an, der es sich leisten kann, ohne zu arbeiten, seine Lust
auszuleben. Zugleich weiß La Mettrie aber auch, dass dies nicht allen
Mitgliedern der Gesellschaft wegen ihres Standes möglich ist, obwohl seiner
Forderung nach „die Glückseligkeit der ganzen Menschheit“ zukommen sollte.
Die Mehrheit gehört als Bauern, Manufakturarbeiter und Tagelöhner dem 3. Stand
an, in dem nur das Bürgertum die
Mittel zum Glück besitzt, während die meisten dieses Standes froh sein können,
wenn sie nicht hungern müssen. Und selbst die Vermögenden sind durch ihre
Charaktereigenschaften, die sie im ökonomischen und politischen Konkurrenzkampf
benötigen, unfähig zum Glück.
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„Das so weit verbreitete Bedürfnis nach Vergnügungen
aller Art beweist zur Genüge, daß im allgemeinen die Menschen an sich bzw.
organisch eher unglücklich sind als glücklich. Besonders Menschen, deren
Talente sehr beschränkt sind, stellen, vor Habsucht, Ehrgeiz, Eitelkeit und
Neid zerfressen, unbeschränkte Ansprüche. Ich bedauere dies der Natur wegen;
denn es würde ihr meines Erachtens mehr Ehre machen, wenn es anderes wäre.
Mehr noch bedauere ich es meiner Brüder, der Menschen wegen; denn es schmerzt
mich zu sehen, daß die große Mehrzahl von ihnen gar nicht fähig ist, Glück
zu erleben, es sei denn ausnahmsweise einmal und zu einem hohen Preis.
Diejenigen, die mit geringen Mitteln glücklich sind, stechen unter den Menschen
hervor wie der Fixstern unter den Planeten, wie eine Rose unter Disteln oder wie
ein strahlender Diamant unter Glitzersternen. Sie sind rar, daß man sie zählen
könnte, während die Zahl derer, in deren Leben die Summe der Übel die Summe
der Güter weit übertrifft, unsäglich groß ist. Eine traurige Wahrheit!“
(La Mettrie: Antiseneca, S. 140)
Der Grund für diesen Zustand liegt in der entfremdeten Arbeit. In der
sich durchsetzenden bürgerlichen Welt ist Arbeit für die große Mehrheit
Lohnarbeit. Das kann auch die Gefühlswelt nicht unberührt lassen. Arbeit und
Lohn für die Arbeit fallen auseinander. Der Zweck der Arbeit wird mir
vorgegeben, er ist durch den Kapitalmechanismus bestimmt. Während ich 8, 10,
12, 14 oder mehr Stunden arbeite, muss ich meine Triebe und emotionalen Bedürfnisse
unterdrücken, während ich meinen Lohn verbrauche und die daraus folgenden
bescheidenen Freuden genießen kann, arbeite ich nicht. Die Triebunterdrückung
und den Triebaufschub, die mir das Realitätsprinzip, das die Anforderungen der
Lohnarbeit in mir repräsentiert, aufherrscht, ist die Bedingung meines
„Kampfes ums Dasein“, d.h. meiner abhängigen Beschäftigung zur Sicherung
meines Lebensunterhalts.
Das Realitätsprinzip widerspricht – in
freudschen Begriffen – dem Lustprinzip, dem Bedürfnis,
unmittelbar meine Triebe auszuleben. Ich muss meine Triebregungen unterdrücken,
im gewitzigteren Fall „sublimieren“, d.h. die Triebenergien in eine geistige
Arbeit ablenken (vgl. Fromm: Therapie, S. 380). Triebunterdrückung oder
Sublimierung der Triebe aber sind repressiv, sie deformieren mich. Wenn nun ein
wesentlicher Teil meines Lebens in Triebunterdrückung und Triebaufschub
besteht, dann hat das Auswirkungen auf meine Gefühlsstruktur, sie wird
reduziert, im schlimmsten Fall stumpfe ich ab.
Wenn nun die Gesellschaft
entscheidend für die Gefühle der Individuen in ihr ist, dann kann man nicht
mehr nur anthropologisch argumentieren, wie La Mettrie es macht, sondern muss
die sozialen Bedingungen, die in unser Leben und unser Gefühlsleben eingreifen,
reflektieren. Voraussetzung dafür ist aber zunächst einmal eine radikale
Kritik der philosophischen Anthropologie. Wie die Kritik der weltlichen Verhältnisse
eine Kritik der Religion voraussetzt, die den ordo rerum immer schon als
Emanation des Göttlichen festschriebt und legitimiert, so muss auch das
statische „Menschenbild“ der Anthropologie kritisiert werden, einer
Anthropologie, die nach der Kritik der Religion deren Rollen in der Frühneuzeit
übernommen hatte.
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Kritik der philosophischen Anthropologie
Gegenposition zu einer Historizität des Gefühlslebens ist die These
von einem einheitlichen überhistorischen Menschenwesen, die im 20.
Jahrhundert Scheler wieder aufgegriffen hat. Danach gibt es ein menschliches
Wesen, das den Kern darstellt, der durch historische Gegebenheiten nur
unwesentlich modifiziert wird. Historizität der Gefühlsstruktur und überhistorisches
Menschenwesen schließen sich kontradiktorisch aus. Die Widerlegung eines
apriorischen menschlichen Wesens wäre eine Begründung seiner Historizität.
Nun hat bereits Hegel erkannt, dass jedes Jahrhundert seine eigene Bestimmung
des Menschen hat. So ist der Mensch nach Hobbes gewalttätig, misstrauisch und
ruhmsüchtig, sein theoretischer Nachfolger John Locke bestimmt ihn eine Epoche
darauf als ursprünglich gut und friedlich. Hobbes hatte die historische
Erfahrung des Bürgerkrieges in England als Hintergrund, der ihn nach einem
absoluten Monarchen rufen lässt; Locke hatte den sich durchsetzenden
Parlamentarismus mit eigentumsmäßig begrenzter Volkssouveränität vor sich,
den er rechtfertigt. Beide schließen vom Menschen im Naturzustand auf das
politische System, das sie für richtig halten. Tatsächlich aber projizieren
sie ihre Erfahrung mit dem Menschen ihrer Zeit in einen fiktiven Naturzustand
hinein, um damit wieder ihr politisches System zu begründen, das sie anstreben
und legitimieren wollen. Das aber ist ein klassischer Zirkelschluss, heute
„naturalistischer Fehlschluss“ genannt. Das menschliche Wesen, das
apriori sein soll, wird aposteriori gewonnen (Hegel: Naturrecht, S. 445).
Was von dem Menschen als allgemeine Bestimmung übrig bleibt, zieht man das
historisch Entstandene ab, sind wenig aussagende „anthropologische
Konstanten“, wie z.B. dass der Mensch einen Kopf hat mit einem relativ zu den
nächsten Verwandten im Tierreich großen Gehirn, dass der Mensch zu großen Gefühlen
fähig ist, diese aber auch abstumpfen lassen kann usw. Über das, was er seinen
Wesen nach ist, sagen diese allgemeinen Bestimmungen fast nichts aus. Selbst die
berühmte Definition von Aristoteles, der Mensch sei ein vernunftbegabtes
Lebewesen, kann uns nicht sagen, was denn der Inhalt seiner Vernunft ist. (Kant
hat deshalb vorgeschlagen, zu bestimmen, was der Mensch zukünftig im
moralischen Sinne sein soll. (Vgl. Kant: Anthropologie, S. 440, und auch den
letzten Abschnitt.)
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Wenn aber ein einheitliches Menschenwesen in der Geschichte nicht rational
aufweisbar ist, dann kann immer nur etwas über das Typische des Menschen einer
Epoche oder einer bestimmten Region ausgesagt werden. Noch Freud, wenn er den
unreglementierten Gefühlen die Tendenz zuspricht, „polymorph pervers“ zu
sein, unterstellt ein naturgegebenes Wesen des Menschen, denn “pervers“ heißt
unnatürlich. Richtig in meinem Sinne wäre der Ausdruck „polymorph
variabel“ - was dann erlaubt und was nicht erlaubt ist, wären Bestimmungen
historischer Gesellschaften bzw. der Vernunft auf einem historischen Stand. Der
Grund, warum die statische Anthropologie trotz ihrer Widerlegung so beliebt war
und ist, hat schon Horkheimer erkannt. „Die moderne philosophische
Anthropologie entspringt demselben Bedürfnis, das die idealistische Philosophie
der bürgerlichen Epoche von Anfang an zu befriedigen sucht: Nach dem
Zusammenbruch der mittelalterlichen Ordnungen, vor allem der Tradition als
unbedingter Autorität, neue absolute Prinzipien aufzustellen, aus denen das
Handeln seine Rechtfertigung gewinnen soll. Diese Anwendung des Denkens,
begriffliche Zusammenhänge zu entwerfen und aus ihnen das ganze menschliche
Leben sinnvoll zu begründen, die geistige Anstrengung, das Schicksal jedes
Einzelnen und der ganzen Menschheit in Einklang mit einer ewigen Bestimmung zu
bringen, gehört zu den wichtigsten Bestrebungen der idealistischen Philosophie.
Sie wird vor allem durch den widerspruchsvollen Umstand bedingt, dass in der
neueren Zeit die geistige und personale Unabhängigkeit des Menschen verkündet
wird, ohne dass doch die Voraussetzungen der Autonomie, die durch Vernunft
geleitete solidarische Arbeit der Gesellschaft, verwirklicht wäre. Unter den
gegenwärtigen Verhältnissen tritt einerseits die Produktion und Reproduktion
des gesellschaftlichen Lebens, das „Wertgesetz“, nicht als Motor der
menschlichen Arbeit und der Weise, in der sie sich vollzieht, hervor. Der ökonomische
Mechanismus wirkt sich blind und deshalb als beherrschende Naturmacht aus. Die
Notwendigkeit der Formen, in denen die Gesellschaft sich erneuert und entwickelt
und die ganz Existenz der Individuen sich abspielt, bleibt im Dunkeln.
Andererseits haben diese Individuen es gelernt, für die gesellschaftlichen
Lebensformen, die sie durch ihr tägliches Handeln aufrecht erhalten und
gegebenenfalls beschützen, also für die Verteilung der Funktionen bei der
Arbeit, für die Art der hergestellten Güter, für die Eigentumsverhältnisse,
Rechtsformen, die Beziehungen der Staaten usw. Gründe zu fordern. Sie wollen
wissen, warum sie so und nicht anderes handeln sollen, und verlangen eine
Richtschnur. Die Philosophie sucht dieser Ratlosigkeit durch metaphysische
Sinngebung zu steuern. Anstatt dem Anspruch der Individuen nach einem Sinn des
Handelns durch Aufdeckung der gesellschaftlichen Widersprüche und durch Hinweis
auf ihre praktische Überwindung zu genügen, verklärt sie die Gegenwart, indem
sie die Möglichkeit des 'echten' Lebens oder gar des 'echten Todes zum Thema wählt
und dem Dasein tiefere Bedeutung zu geben unternimmt.“ (Horkheimer:
Anthropologie, S. 3 f.)
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Die Historizität gilt für das Gefühlsleben und die
Triebstruktur genauso wie für die Vernunft, die nicht wie eine bare Münze
eingesteckt werden kann, sondern sich durch Argumente und Gegenargumente erst
herausbildet. Allerdings enthält die Vernunft im Gegensatz zu den Gefühlen
auch ein absolutes Moment, etwa als Logik, und sie kann einen avancierten Stand
erreichen, der nicht durch die Verarbeitung aktueller Erfahrungen allein
entsteht, sondern die Geschichte der Philosophie und Vernunft seit ihrer
Entdeckung im antiken Griechenland und anderswo enthält, also quasi die
Reflexion der ganzen Erfahrung, welche die Weltgeschichte hervorgebracht hat.
Teilweise gilt letzteres auch für die Triebstruktur, insofern sie ein
historisches Produkt ist, also Geschichte enthält – man denke etwa an den
romantischen Liebesbegriff, der im Minnesang erfunden, im „Sturm und Drang“
wieder gegen die Konvention propagiert wurde
und sich in der Romantik endgültig als allgemeiner Wunsch in der
Vorstellungswelt der jungen Menschen durchgesetzt hat.
Der gerade angewendete Begriff von Vernunft ist hier eine bloße
Behauptung und an anderer Stelle begründet (etwa in Hegels „Phänomenologie“
- dazu neuerdings Bensch: Perspektiven des Bewußtseins. Hegels Anfang der Phänomenologie
des Geistes). Enthält der avancierte Stand der Vernunft „die ganze Arbeit der
Weltgeschichte“ (Hegel), dann kann die Vernunft nicht nur die Dienerin des Gefühlslebens
und der Wollust sein wie bei La Mettrie. Sie muss auch ein Bestimmungsgrund der
menschlichen Glückseligkeit werden und der sinnlichen Lust ihren Bereich
abstecken, in dem sie sich ausleben kann, soweit das Gefühlsleben allgemeine
Bestimmungen der Moral benötigt. Und Vernunft muss die historischen Bedingungen
reflektieren, die unsere Triebstruktur bestimmen und damit unsere Glücksmöglichkeiten.
Die Wissenschaft nun, die sich der Pflege des Gefühlslebens
mit ihren Ratschlägen widmen sollte, ist die Psychologie. Doch auch diese ist
ständig in Gefahr, ins Ideologische abzugleiten.
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