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Politik Titel

Inhalt

Bodo Gassmann:
Kritik der Demokratie oder Kampf um Verfassungspositionen?
Gegen den Aufsatz: "Die Demokratie und ihre Idealisten"

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Bodo Gassmann

Kritik der Demokratie oder Kampf um Verfassungspositionen?

Gegen den Aufsatz: "Die Demokratie und ihre Idealisten"

Wir haben den Text „Die Demokratie und ihre Idealisten“ ("Demokratiekritik") (Quelle: www.junge-linke.de) auf einer unserer Seiten dokumentiert unter:
Zum Artikel "Demokratiekritik"  
Dort ist er mit dieser Antikritik verlinkt.

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Inhalt unseres Essays

Vorbemerkung zum Inhalt des Aufsatzes

Einleitung: Das Ideal der Demokratie und die Kritik daran

Inhalt und Form der „politischen Herrschaft“

Alternativen zur bürgerlichen Demokratie

Historische Konkretisierung der bürgerlichen Demokratie

Das Allgemeinwohl

Verharmlosung des Faschismus und theoretische Handlungsabstinenz

(2. Teil)

Kritik des gegenwärtigen Zustands der bürgerlichen Demokratie

Fazit: Die demokratischen Formen

Konkret zu den Wahlen

Sozialismus und Demokratie

Rätedemokratie

Sozialistische Demokratie und bürgerliche Errungenschaften

Kampf um Verfassungspositionen

Literatur

(Inzwischen ist eine Antwort auf meine Kritik erschienen. Hier meine Entgegnung: 

Letzter Akt der Debatte um Demokratie...

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 Vorbemerkung zum Inhalt des Aufsatzes

 Wir stimmen mit dem Autor oder den Autoren dieser Schrift, kurz „Demokratiekritik“ genannt, darin überein, dass der Inhalt der Demokratie in der BRD gewöhnlich bei Diskussionen über diese Staatsform ausgeblendet wird, dass von einem Ideal ausgegangen wird, ohne zu prüfen, ob die bürgerliche Demokratie eigentlich das leisten kann, was im Ideal genannt wird. Auch stimmen wir der Voraussetzung des Autors zu, dass nur eine sozialistische Produktionsweise die Garantie enthält, dass die „persönlichen Bedürfnisse“ der Menschen befriedigt werden. (Demokratiekritik, S. 1) Unsere Kritik richtet sich gegen die pauschale Abwertung demokratischer Formen und gegen die simplifizierende idealistische Vorstellung vom Sozialismus/Kommunismus.

 Einleitung: Das Ideal der Demokratie und die Kritik daran

 Das Ideal der Demokratie ist exemplarisch in der französischen Verfassung während der Revolutionsjahre formuliert worden. Grundlage sind die allgemeinen Menschenrechte der Individuen, die als autonome Personen angesehen werden. Entsprechend liegt bei den Individuen auch die Souveränität der Gesellschaft (Volkssouveränität). Da sie aber nicht alle bei jeder Gelegenheit zusammenkommen können, werden sie durch gewählte Repräsentanten vertreten. Der Zweck, weshalb sich Menschen in einer Gesellschaft zusammenfinden, ist das allgemeine Wohl, das sie nur mit gemeinsamen Kräften sichern können. Das Volk wählt seine Repräsentanten zum Parlament (Legislative) periodisch durch freie, allgemeine und geheime Wahlen. Aus dem Parlament geht eine Regierung (Exekutive) hervor, deren Zweck das allgemeine Wohl ist und welche die unabdingbaren Rechte der Menschen und Bürger zu verbürgen hat. Die Regierung ist an Gesetze gebunden, die von dem Parlament beschlossen werden. Alle Angelegenheiten des Volkes und des Landes werden im Parlament („Redeort“) besprochen, in freier Diskussion werden Argumente ausgetauscht und im Vertrauen auf die Vernunft der Menschen wird sich die vernünftigste Lösung der Probleme kraft Einsicht durchsetzen.

 Der Autor des Textes „Die Demokratie und ihre Idealisten“ kritisiert zu Recht an diesem Ideal, dass der Inhalt dessen, was demokratisch entschieden wird, außerhalb der Betrachtung in der bürgerlichen Öffentlichkeit bleibt, wenn gewöhnlich über Demokratie diskutiert wird. Sind die Interessengegensätze antagonistisch, dann kann es gar keine „vernünftige“ Lösung der Probleme geben, weil jede Mehrheitsentscheidung für eine Seite des Antagonismus den unterlegenen Teil bei der Abstimmung schädigt- das „Allgemeinwohl“ ist in der Klassengesellschaft immer ein Klassenwohl.

 Die von dem Demokratie-Ideal vorausgesetzte Autonomie der Bürger, die der erste Souverän sind, ist so nicht vorhanden. 80 % der Menschen sind Lohnabhängige oder leben von Einkommen, das aus lohnabhängiger Tätigkeit stammt (einschließlich der Rentner usw.). In einem wesentlichen Aspekt ihres Leben, von dem ihre materielle Existenz abhängt, sind die Menschen also unfrei, nicht autonom, sondern abhängig. Das offenbart sich schlagartig an einem gegenwärtigen Fall. Einem angestellten Schauspieler, der für eine linke Partei kandidieren will, droht seine Medienanstalt an, ihn im Fall einer Kandidatur rauszuwerfen. Von der ökonomischen Potenz, die der besitzenden Klasse zur Verfügung steht und mit der sie auch politischen Einfluss ausübt, ganz zu schweigen.

 Weiter ist der Inhalt der Parlamentsdebatten, der Gesetze und der Regierungserlasse nicht einfach das „allgemeine Wohl“, sondern der Vollzug der Gesetze der Kapitalproduktion, die über die Konkurrenz allen Institutionen, Konzernen, kleineren Betrieben und Privatpersonen aufgezwungen werden. Dazu gehört das Wertgesetz, das auch den Wert der Arbeitskraft reguliert. Für die Lohnabhängigen geht es in der Politik lediglich um die Höhe der sozialen Sicherung, die man sich im Konkurrenzkampf auf dem Weltmarkt noch leisten kann, und um die Armutsverwaltung, damit keine größeren gesellschaftlichen Eruptionen entstehen.

 Das Interesse an der Abschaffung dieser unbeherrschbaren Ökonomie ist faktisch im Parlament der Bundesrepublik nicht mehr vertreten. Insofern die objektiven Interessen der Lohnabhängigen an einer Beseitigung dieser Produktionsweise nicht mehr in der Legislative präsent sind, ist die indirekte Aufforderung unseres Kritikers, sich nicht an der Wahl zu beteiligen, verständlich, auch wenn wir dennoch daran Kritik üben (siehe unten).

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 Inhalt und Form der „politischen Herrschaft“

 Das Gerede unseres Autors von den „Interessen der Leute“ ist so abstrakt wie das seiner  kritisierten Gegner von der Demokratie als bloßer Form. Während unser Autor von jeder Reflexion auf konkrete Inhalte abstrahiert (außer Äpfel und Birnen), nur von der mangelnder Befriedigung der Bedürfnisse von Lohnabhängigen redet er, abstrahieren die „Idealisten“ von den Inhalt dessen, was in der Demokratie verhandelt wird. Nun kann man durchaus über einen begrenzten Gegenstand wie z.B. die Form der politischen Herrschaft reden, aber in diesem Fall ist Form ein Reflexionsbegriff, der nicht ohne prinzipiellen Bezug auf einen Inhalt erörtert werden kann. Andererseits ist die begrenzte Reflexion des Inhalts von Politik nicht möglich ohne auch die Form der Inhaltsauseinandersetzung einzubeziehen. Zwei Abstraktionisten der Debatte stehen sich gegenüber und wie in den Religionen, die vom Leben abstrahieren, stinken sie beide, um es mit Heinrich Heine zu sagen.

 Inhalt und Form der „politischen Herrschaft“ (Macht) stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Die Form ist die Demokratie und der Inhalt ist die politische Regelung, die in der kapitalistischen Produktionsweise nötig ist, also die Organisation der ökonomischen Herrschaft. Der Autor der „Demokratiekritik“ setzt umstandslos beides gleich und kommt deshalb zu falschen Schlussfolgerungen.

 Die parlamentarische Demokratie scheint die angemessene Form für konkurrierende Unternehmen um Märkte und konkurrierende Einzelpersonen um Arbeitsplätze zu sein, weil sie den Konkurrenzkampf mit friedlichen Mitteln (Wahlen, Diskussionen, Argumente) regelt, allgemeine Gesetze für alle gelten und (rechtliche) Privilegien wirksam verhindert werden. Die Gewaltenteilung dämpft übermäßige Macht bei einzelnen Gruppen oder Personen und der Klassenkompromiss des Sozialstaates garantiert auch den gering Verdienenden, dass sie zumindest keine übermäßige Not leiden müssen (keine absolute, sondern nur relative Verelendung). Die Adäquatheit von politischer Form und sozialem und ökonomischen Inhalt ist aber nur ein fragiles Verhältnis.

 Der angedeutete Inhalt der Demokratie verträgt sich zumindest zeitweilig auch mit diktatorischen Formen politischer Macht wie im Faschismus. Und die Form als Demokratie ist nicht einfach ein leerer Behälter für beliebige Inhalte, sondern jede Form ist selbst „niedergeschlagener Inhalt“ (Hegel). So ist die Demokratie im antiken Athen erfunden worden, deren Inhalt eine Sklavenhaltergesellschaft war, in der Staat und Gesellschaft noch nicht getrennt waren, wie seit dem „Absolutismus“ bis heute. Sie entstand in dem historischen Moment, als Athen die freien Unterschichten (Tagelöhner) für seine Seemacht und Hegemonialpläne benötigte. Demokratie als Form ist anscheinend an die Partizipation des Volkes an der Macht gebunden. Die immanente Tendenz des Kapitalismus ist die Konzentration und Zentralisation des Kapitals, so dass auch die kleineren Unternehmen zu „Zulieferern“ für die Großen und damit von ihnen abhängig werden. Dieser wechselnde Inhalt verändert auch die Form der Demokratie. Die angemessene Form eines  Großkonzernkapitalismus ist anscheinend die autoritäre Demokratie, in der sich nur zwei „Volksparteien“ um die Macht streiten, Lobbyisten in beiden Parteien ihre Interessen wirksam vertreten und die Gewerkschaften zu Transmissionsriemen der Kapitalinteressen in die Arbeiterschaft geworden oder in ihrer Macht bereits marginalisiert sind. Dieses Ideal vertritt anscheinend auch Oskar Negt, wenn er der neuen „Linkspartei“ vorwirft, sie würde sich an das parlamentarische System „anhängen“. (Vgl. unsere Kritik: Negt:Die Schlammschlacht hat begonnen! (Archiv))

 Nimmt die Macht multinationaler Konzerne derart zu, dass ihre ökonomische Potenz die von Einzelstaaten übersteigt, dann sind die Regierungen dieser Staaten erpressbar, sie werden zu Erfüllungsgehilfen der übermächtigen Konzerne und ihre demokratische Form der Macht ist zur Farce verkommen. Umgekehrt, hat ein Staat oder Staatenbund wie die EG oder die USA mit ihren demokratischen Formen große politische und militärische Potenz, dann kann er den Großkonzernen – der Wille dazu vorausgesetzt – die demokratischen Regeln der Konkurrenz aufherrschen (Kartellgesetze, Beschränkung der Marktmacht, Sozialabgaben usw.)

 Man sieht also, der Inhalt verändert seine Form und die Form ist Ausdruck ihres Inhalts, indem sie nur bestimmten Inhalt zulässt. Zugleich haben die demokratischen Formen auch eine gewisse Elastizität, die unterschiedliche soziale Inhalte zulässt. Unter den Bedingungen der gegenwärtigen Globalisierung besteht die Tendenz, den Einfluss des Staates und damit auch der demokratischen Formen zurückzudrängen, die soziale Sicherung zu privatisieren, die Lohnkosten auf das Notwendigste zu senken, indem man u.a. die Konkurrenz unter den Lohnabhängigen verstärkt durch Öffnung gegenüber Billiglohnländern, Arbeitsemigration, Verlagerung von Industrien ins Ausland usw. Der Aufruf unseres Demokratiekritikers, nicht zur Wahl zu gehen, schwächt die verbleibenden demokratischen Strukturen und ist  - auch wenn seine Zielrichtung das Gegenteil anvisiert – auf der Linie neoliberaler Strategie der Marginalisierung des gesamtgesellschaftlichen Einflusses auf die Konzernökonomie.

 Nun mag ein linkes Herz davon träumen, dass der Staat allmählich abstirbt, aber unter kapitalistischen Bedingungen heißt das, die Großkonzerne als unkontrollierbare Mächte übernehmen das Regime und alle Träume platzen.

Alternativen zur bürgerlichen Demokratie

 Prinzipielle Alternativen zur bürgerlichen Demokratie scheint es theoretisch nur zwei zu geben: Die diktatorische Herrschaft des Kapitals in welcher konkreten Form auch immer oder die Abschaffung von ökonomischer Herrschaft und damit auch die Beseitigung politischer Macht, so dass die Herrschaft über Menschen ersetzt wird durch eine Verwaltung von Sachen (Marx). Eine dritte Möglichkeit wie etwa die Diktatur einer Partei oder eines Parteiführers, der über eine verstaatlichte Ökonomie verfügt, bleibt Teil des kapitalistischen Konkurrenzkampfes und ist eher mit der staatlich verankerten Diktatur eines Großkonzerns vergleichbar als mit dem Sozialismus, dessen Namen als Schmuck missbraucht wird wie in der ehemaligen DDR oder heute in Nordkorea, diese dritte Möglichkeit ist also keine prinzipielle Alternative.

Die Alternativen zur bürgerlichen Demokratie sind jedoch so abstrakt wie das „Ideal der Demokratie“, wenn sie nicht historisch konkretisiert werden. Das gleiche gilt für den Demokratiekritiker, in der gegenwärtigen Situation von der Abschaffung des Staates zu träumen und diesen Traum unvermittelt mit einer Wahlentsagung verwirklichen zu wollen. Bevor man solche abstrakten Aufforderungen äußert, sollte man sich über den historischen und aktuellen Gehalt der bürgerlichen Demokratie kundig machen.

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Historische Konkretisierung der bürgerlichen Demokratie

 Politische Formen der Herrschaft existieren, seit es ökonomische Herrschaft als kostenlose Aneignung fremder Arbeit bzw. Arbeitsprodukte gibt. Erst seit diesem Zeitpunkt wurde es nötig, politische Formen zu finden, die eine Aneignung des Mehrproduktes durch die ökonomisch Herrschenden regeln und verteidigen. Insofern der Autor der Demokratiekritik heute den Inhalt der Demokratie in die Diskussion und die Verquickung von politischer Macht und ökonomischer Herrschaft des Kapitals über die Lohnabhängigen in die Reflexion um diese politische Form der Demokratie einbeziehen will, ist ihm zuzustimmen. Allerdings verquickt der Autor ständig politische und ökonomische Herrschaft, er begibt sich dadurch eines Analyseinstrumentes, das, konsequent angewandt, seine Schlussfolgerungen ad absurdum führt.

 Die geistigen Voraussetzungen für die bürgerliche Demokratie wurden im Spätmittelalter gelegt. Mit der Kritik der Gottesbeweise war die Legitimierung des Gottesgnadentums der Kaiser und Könige nicht mehr akzeptabel, oder mit Marx gesprochen: die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik. Wenn aber eine göttliche Legitimierung adliger Herrschaft und des Monarchen nicht mehr möglich ist, dann sind die Menschen auf sich selbst angewiesen, sich eine Regierung zu geben, die Form ihrer Beziehungen zu regeln. Galt bis dahin der Monarch als legitimer Souverän, so wird nun die Souveränität des „Volkes“ begründet, zumal auch ein städtisches Bürgertum entstanden ist, das an der Macht teilhaben will. Diese Idee der Volkssouveränität hat als einer der ersten Marsilius von Padua begründet. Er will nachweisen, „daß die menschliche Befugnis zur Gesetzgebung allein der Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit zukommt“ (Marsilius, S. 54). Der entscheidende Grund für diese Volkssouveränität sieht Marsilius in der Art und Weise, wie sich Interessen in Form der Gesetze niederschlagen. Die Bürger selbst sind es, für die Gesetze gelten, die ihr Interesse an dem Gemeinwohl in den Gesetzen ausdrücken können – im Gegensatz zu einem Monarchen, der als einzelner das Wohl der Allgemeinheit gar nicht kennen kann. „Einen Mangel an der Gesetzesvorlage kann nämlich eine größere Zahl eher bemerken als ein Teil von ihr; denn jedes körperhafte Ganze wenigstens ist größer an Masse und Kraft als jeder Teil von ihm für sich. Ferner wird aus dem ganzen Volk heraus der Nutzen des Gesetzes für die Allgemeinheit schärfer geachtet, weil niemand sich wissentlich schadet.“ (Masilius, S. 55)  Unterstellt man – entgegen dem Autor der Demokratiekritik -, dass es auch in einer sozialistischen Gesellschaft Interessengegensätze gibt (siehe unten), dann gilt die Argumentation von Marsilius auch für eine sozialistische Gesellschaftsordnung. Ein bürokratischer Kollektivismus („Stalinismus“), der ein Politbüro oder einen Parteiführer bestimmen lässt, welche Interessen das Volk haben soll, ist kein Sozialismus, sondern eine Diktatur im bürgerlichen Sinne (Luxemburg).

 Am klarsten gegen eine diktatorische Form der Herrschaft hat John Locke argumentiert. Was er gegen den Despotismus („Absolutismus“) sagt, lässt sich auf alle derartige Formen verallgemeinern. Locke geht von einem natürlich bestimmten Recht auf Selbsterhaltung aus, das die Freiheit der Einzelnen einschließt, verstanden als tun und lassen können, was man will, im Rahmen der Gesetze. „Wer versucht, einen anderen Menschen in seine absolute Gewalt zu bringen, versetzt sich selbst gegenüber diesem Menschen in den Kriegszustand, denn sein Handeln muß als die Erklärung eines Anschlags auf sein Leben aufgefaßt werden.“ Auf die ganze Gesellschaft angewandt bedeutet diese Aussage, „daß derjenige, der in einer Gesellschaft den Gliedern dieser Gesellschaft oder dieses Staates die ihnen gebührende Freiheit raubt, auch die Absicht haben wird, ihnen alles übrige zu nehmen, und ihn deshalb als im Kriegszustande betrachten muß.“ (Locke, S. 15)  Gegen diesen despotischen Herrscher hat jeder Mensch das (moralisch legitimierte) Recht auf Widerstand.

 Wenn aber eine despotische Form der politischen Herrschaft das eigene Leben gefährdet, dann kann nur eine demokratische Form akzeptabel sein. Zentral ist für Locke die Legislative. „Das große Ziel, mit welchem die Menschen in eine Gesellschaft eintreten, ist der Genuß ihres Eigentums in Frieden und Sicherheit, und das große Werkzeug und Mittel dazu sind die Gesetze, die in dieser Gesellschaft erlassen worden sind. Das erste und grundlegende positive Gesetz aller Staaten ist daher die Begründung der legislativen Gewalt – so wie das erste und grundlegende natürliche Gesetz, welches selbst über der legislativen Gewalt gelten muß, die Erhaltung der Gesellschaft und (soweit es vereinbar ist mit dem öffentlichen Wohl) jeder einzelnen Person in ihr ist.“ (Locke, S. 101)  Unhintergehbar an dieser Konstruktion ist die Gründung der Legislative auf der Volkssouveränität und zugleich deren Begrenzung an einem „höheren Recht“ der Selbsterhaltung, auch wenn die naturrechtliche Begründung problematisch ist. Implizit wird in dem Zitat auch schon die Kontrolle der Macht durch Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive angedeutet. Diese grundlegenden Prinzipien sind auch für eine sozialistische Gesellschaft unhintergehbar.

 Nicht aber lassen sich die konkreten Ausführungen von Locke akzeptieren. Unter „Eigentum“ versteht Locke zwar Leben, Freiheit und Vermögen, aber in seiner konkreten Bestimmung des Wahlrechts wird der Vermögensaspekt entscheidend: Locke begründet ein Klassenwahlrecht, weil die Vermögenden ein größeres Interesse an der Erhaltung des Reichtums haben als Nichtbesitzende, auch würden sie durch angehäuftes Vermögen zeigen, dass sie mehr Vernunft haben als die anderen. Die politische Form ist hier unmittelbarer Ausdruck des ökonomischen Inhalts. Die grundsätzliche Gleichheit der Menschen, die es nach Locke bereits im Naturzustand geben soll, wird in der bürgerlichen Gesellschaft plötzlich zur bloßen Gleichheit vor dem Gesetz. Ebenso ist seine Begründung der Eigentumsdifferenzierung bloße Ideologie, denn nicht durch mehr Fleiß bilden sich Vermögensunterschiede, sondern durch ökonomische Abpressung eines Mehrwerts von den Lohnabhängigen. Selbst der konsequenter reflektierende Kant kann die Eigentumsdifferenzierung nur begründen durch einen ursprünglichen Akt der Gewalt.

  In dem historischen Moment, wenn die unteren Klassen nach Partizipation an der Macht streben, das Proletariat seine Ansprüche anmeldet, muss die politische Form des „Besitzindividualismus“ in eine Krise geraten. Stand die frühe Klassengesellschaft Englands unter der „Bedingung, daß unter allen, die bei der Wahl der Regierung eine Stimme haben, ein Zusammenhalt der Eigeninteressen vorhanden sein muß, der stark genug ist, die zentrifugalen Kräfte einer Eigentumsmarktgesellschaft zu neutralisieren.“ (Macpherson, S. 305)  So gilt nach Macpherson dies im 20. Jahrhundert nicht mehr. „Zwar herrschten die Eigentumsmarktbeziehungen weiterhin vor, aber ihre Unvermeidlichkeit wurde in wachsendem Maß in Frage gestellt, da eine industrielle Arbeiterklasse ein Klassenbewußtsein entwickelte und sich politisch artikulierte. Die Menschen sahen sich nicht länger als fundamental gleich in ihrem unvermeidlichen Unterworfensein unter die Gesetze des Marktes. Die Entwicklung des Marktsystems brachte eine Klasse hervor, die in der Lage war, eine Alternative zu diesem System ins Auge zu fassen (...)  Nach Einführung des demokratischen Wahlrechts gab es nicht länger die Garantie eines Zusammenhalts unter den Stimmberechtigten, die zu einer Zeit, da nur eine Klasse Stimmrecht hatte, durch das Klasseninteresse gewährleistet war.“ (Macpherson, S. 306)

 Das Fortbestehen liberal-demokratischer Staaten war nach der Einführung des allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrechts nur möglich, weil die besitzende Klasse die Fähigkeit entwickelte, ungeachtet des allgemeinen Wahlrechts die effektive politische Macht auszuüben. Dies verdankt sie nicht nur ihrer ökonomischen Macht, mit der sie auch die Produktionsmittel für die vorherrschenden Ideen besitzt (vgl. unser Rezension der „Reformlüge“), nicht nur ihrer Fähigkeit, die organisierten Arbeiterparteien zu korrumpieren und in den Opportunismus umzuleiten, nicht nur den möglichen sozialen Gratifikationen, die das Interesse der Lohnabhängigen im Kapitalismus bindet, anstatt das Interesse an der Abschaffung dieser Produktionsweise zu entwickeln. Dieses Fortbestehen ist auch durch die politische Form der liberalen Demokratie begründet, die den Einzelnen einen historisch nie gekannten Freiheitsraum eröffnet. Das Fehlen liberaldemokratischer Formen dagegen im bürokratischen Kollektivismus hat mit dazu beigetragen, diesen für die Menschen so unattraktiv zu machen.

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 Das Allgemeinwohl

 Der Zweck des Zusammenschlusses zur bürgerlichen Gesellschaft kann nicht nur der Schutz des Eigentums sein, wie Locke meinte. Der Staat musste im Verlauf der letzten 300 Jahre immer mehr Funktionen übernehmen, die auf marktwirtschaftlicher Grundlage nicht funktionieren würden, für die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Marktes aber notwendig sind, man denke nur an den Bildungs- und Sozialbereich. Diese Staatstägigkeit verlangt nach der Bestimmung dessen, was das allgemeine Wohl sein soll. Die Unterscheidung von Rousseau zwischen dem volonté  de tous (Wille zufälliger Mehrheiten) und dem volonté  générale (vernünftiger Wille) war noch an den Partikularismus von Kleinproduzenten in einer überschaubaren Stadtrepublik gebunden (vgl. Mensching, S. 118 f.). Erst bei Kant und im deutschen Idealismus wird der Anspruch auf Allgemeinheit der Vernunft erhoben, welche die gesamte Menschheit einschließt. Ausfluss dieser Reflexion des Allgemeinwohls sind die allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte und Verfassungsprinzipien, die den positiven Verfassungen der liberaldemokratischen Staaten mehr oder weniger zugrunde liegen. So könnte man die unabänderlichen Artikel des deutschen Grundgesetzes als Versuch interpretieren, den volonté  générale als allgemein gültigen Vernunftwillen Geltung zu verschaffen, wenn auch nur als formalen, wofür unser Demokratiekritiker nur Spott übrig hat. (Vgl. u.a. Demokratiekritik, S. 3)  Mehr als die romantische Vorstellung von der Interessengleichheit, die keiner Verfassung mehr bedarf, kann er aber diesem Gedanken nicht entgegensetzen.

 Allerdings widerspricht der Inhalt, die Regelung der kapitalistischen Angelegenheiten, die Ausdruck partikularer Interessen einer Minderheit von Kapitalbesitzern sind, dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit der Vernunft, insofern sie in der so genannten „Freiheitlich demokratischen Grundordnung“ enthalten ist. Das lässt sich eindruckvoll an Artikel 1 des Grundgesetzes zeigen.

Wenn die „Würde des Menschen“ „unantastbar“ ist. „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ (Grundgesetz, S.8), dann ist dieser Artikel mit der Ausbeutung von Lohnabhängigen nicht vereinbar. Nach Kant heißt Würde, keinem Gesetz zu folgen, dass man sich nicht selbst geben könnte. Niemand kann jedoch vernünftigerweise einem Arbeitsverhältnis zustimmen, dass ihn ökonomisch zwingt, mehr zu arbeiten, als er in Form von Lohn als Gegenleistung zurückbekommt. Die kostenlose Aneignung eines Mehrwerts durch die Kapitalbesitzer, die den Gesetzen der kapitalistischen Produktionsweise entspricht, widerspricht den vernünftig bestimmten Menschenrecht auf Würde.

 Die Verunglimpfung der Verfassungsprinzipien wie „Würde“ als Ideal, anstatt sie als zu erkämpfendes Ziel anzusehen, zeigt bei dem Autor der Demokratiekritik Zynismus und Menschenverachtung. Das zeigt auch die Verharmlosung des Faschismus.

 Verharmlosung des Faschismus und theoretische Handlungsabstinenz

Die Absurdität der „Demokratiekritik“ wird vor allem dort offensichtlich, wo der Autor streng logisch zu argumentieren scheint. Das Argument, die Demokratie sei besser als die Herrschaftsform des Faschismus, lässt er nicht gelten. (Er spricht zwar von „Diktatur“, aber im Zusammenhang mit den üblichen Vergleichen ist mit der Diktatur immer der Faschismus gemeint.) Denn dieses Argument widerspreche „der Logik des Vergleichs“, den er auf ein Kinderbeispiel herunterbringt:

 Ein solcher Vergleich „zeichnet sich dadurch aus, dass bei verglichenen Gegenständen einerseits ein gemeinsamer Oberbegriff gefunden wird und andererseits Unterschiede festgehalten werden. Also nehmen wir zum Beispiel einen Vergleich von Äpfeln und Birnen, beides ist Obst, aber die Früchte haben unterschiedliche Formen und Farben usw. Daraus folgt aber noch lange kein Lob von wahlweise Äpfeln oder Birnen. Genau so bei dem Vergleich von Herrschaftsformen. Nur, weil man feststellt, dass ein Diktator lebenslang herrscht oder alle 4 Jahre die Herrschaft vom Volk gewählt wird, kommt noch lange kein Lob für letztere Form der Herrschaft heraus. Ein Vergleich ist eben kein Argument, also keine Art Beweis.“ (Demokratiekritik, S. 9)

 Schon für das simplifizierende Beispiel aus der Biologie stimmt seine Schlussfolgerung nicht. Wenn jemand allergisch auf Äpfel reagiert, dann sind Birnen, die er verträgt, durchaus löblich für ihn. Nur wenn man im Vergleich allein die Form beachtet – seltsam bei einem Autor, der Wert auf den Inhalt legt -, sind unterschiedliche Inhalte kein Argument. Im Übrigen ist der gemeinsame Oberbegriff „Herrschaftsform“ ebenfalls bloß formalistisch gewählt, ich könnte genauso „gute Herrschaftsformen“ als Oberbegriff wählen (wie Aristoteles es macht), der vergleicht Monarchie, Aristokratie und Demokratie, während Tyrannis (Faschismus heute), Oligarchie und Anarchie herausfallen aus dem Vergleich. Oder ich vergleiche meinen Bleistift, den ich gerade zum Schreiben nutze, mit dem Mond unter dem gemeinsamen Oberbegriff „feste Körper“. Man sieht, sein Bezug auf die Logik ist bloß willkürlich gewählt und völlig formalistisch. Die politische Herrschaftsform Demokratie und Faschismus unterscheidet sich eben nicht in ihrem Wesen durch „lebenslang“ oder „alle 4 Jahre“. Sondern Faschismus heißt, industrieller Völkermord, Kampf um Weltherrschaft als kriegerisches Hasardspiel, Zerstörung durch Krieg, persönliche Unfreiheit, allgemein Missachtung der Menschenrechte. Dagegen steht die kapitalistische Demokratie, in der man immerhin seine Menschenrechte einklagen kann, eine bedeutend größere persönliche Freiheit hat, sich gegen imperialistischen Krieg durch Kriegsdienstverweigerung und Protest wehren kann, Völkermord verhindert wird und der Kampf um Weltmarktanteile in der Regel mit ökonomischen Mitteln geführt wird.

 Um auf  weitere Fakten zu verweisen: Die demokratische BRD hat in 46 Jahren einen Krieg gegen ein Land geführt, in dem Tornadopiloten etwa 3000 Serben ermordet haben. Der deutsche Faschismus hat ganz Europa überfallen und ca. 50 Millionen Tote in seinen zwölf Jahren produziert.

 In der idiotischen Gleichsetzung von Demokratie und Faschismus, nur weil sie beide auch kapitalistische Verhältnisse regeln (im Faschismus schlechter), drückt der Autor der Demokratiekritik vor allem sein Interesse aus, die von ihm kritisierten Verhältnisse überhaupt nicht verändern zu wollen. Denn es ist Allgemeingut der sozialistischen Bewegungen, dass sie sich nur in der bürgerlichen Demokratie entfalten können. Unter den Bedingungen des Faschismus ist nur der Volksfrontgedanke sinnvoll, d.h. Arbeiterbewegung und bürgerliche Demokraten gemeinsam gegen den faschistischen Staat, um allererst die freie Luft zum politischen Atem wieder zu erobern. Hätten wir Faschismus, könnte unser Autor auch seine richtige Kritik und seine falschen Thesen nicht verbreiten, sein romantischer Anarchismus bliebe im dunklen Schacht seines Bewusstseins verborgen. Die Organisation einer Gegenmacht zum Kapital ist nicht möglich, ohne Versammlungs-, Vereins-, Pressefreiheit und der anderen demokratischen Rechte. Die Verteidigung der bürgerlich-demokratischen Verfassungsprinzipien ist deshalb Pflicht für Sozialisten, denn sie ist die Voraussetzung für den Kampf um eine nicht vom Kapital bestimmte Ökonomie.

Zum Fremdtext: Demokratiekritik

Zum zweiten Teil

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