Von
Erinnyen Aktuell veröffentlicht im Januar 2007
Essay
Bodo Gaßmann
Gefühl
und Vernunft
Resultate
der Reflexion eines Verhältnisses
Inhalt
Materialistische Philosophie ist das Denken der Lust
Das Recht der Vernunft und ihrer Moral
Kritik der philosophischen Anthropologie
Psychologie als Ersatzphilosophie?
Der Mythos vom Aggressionstrieb
Die Triebstruktur des heutigen Menschen
Kulturindustrie und die Manipulation von Vernunft und
Gefühl
Vorherrschende Triebstruktur und romantische Liebe
Die Triebstruktur der Befreiung
Materialistische
Philosophie ist das Denken der Lust
Es gibt nichts schöneres als unsere Gefühle. Höchste körperliche Lust
liegt im Höhepunkt des Liebesaktes: dem Orgasmus. Die Entdeckung einer neuen
wissenschaftlichen Einsicht, vielleicht nach jahrelanger Forschung, erzeugt eine
tiefe durch den Geist bewirkte auch sinnliche Befriedigung. Für Aristoteles war
das Philosophieren die höchste Glückseligkeit, die auch mit sinnlicher Lust
verbunden war (Ethik, S. 29 ff., 70 f.). Von der geistigen Lust bis zur Lust
eines vor Vergnügen quietschenden und strampelnden Säuglings, der sich
„sauwohl“ fühlt, hat das Gefühl der Lust immer mehr oder weniger Anteil
am Glück der Menschen, den höchsten Zustand, zu dem sie fähig sind,
weshalb sie das Glück immer auch als etwas Göttliches angesehen oder ihre Lust
in einen Gott, also ein Idealwesen, verkörpert haben. Erst das Christentum hat
die Götterwelt entsinnlicht und die Lust zu etwas Bösem gemacht.
Mit der Aufklärung und der
Befreiung von kirchlichem Dogmatismus und von der Unterdrückung der
Sinnlichkeit, die dazu diente die Menschen zu beherrschen, begründete die bürgerliche
Philosophie, besonderes der sensualistische Materialismus eine Philosophie der
Lust. Die Darstellung von „obszönen Ausschweifungen der Wollust“, um die
Lust insgesamt zu verteufeln, wird als „eine Verhöhnung der Natur“
angesehen. La Mettrie beschwört die Lust in seiner Schrift mit dem
programmatischen Titel „Die Kunst, Wollust zu empfinden“, wobei er unter
Wollust bereits eine kultivierte Art der Lust versteht – im Gegensatz zur
rohen Befriedigung der Triebe: „Oh, ihr reinen, ihr edlen Herolde der Wollust,
ihr, bei denen die Götter der Liebe in ewiger Schuld stehen, macht, daß die
Wollust auch mich beflügelt!“ Für ihn ist sie wie selbstverständlich eine
natürliche Eigenschaft des Menschen, die es auszukosten gilt, wenn man nicht um
einen wesentlichen Teil seines Menschseins betrogen werden will. „Ja, ihr Glückskinder
der Natur und der Liebe, die ihr von jener Gottheit selbst eigens dafür
geschaffen wurdet, um einen ihrer würdigen Zweck, will sagen: dem Glück der
Menschheit, zu dienen: ihr allein könnt mich inspirieren. Euer Genie gebe mir
Kraft und Schwung, erleuchte mich durch die Liebe und öffne mir so das
Allerheiligste der Natur! Neuer (aber glücklicherer) Prometheus, laß mich dort
das heilige Feuer der Wollust entnehmen, auf daß es in meinem Herzen, als
Tempel der Wollust, niemals erlösche! Möge doch endlich Epikur, so wie
er im Herzen jedes Menschen lebt, allhier erscheinen! Oh Natur, oh Liebe, könnte
ich doch nur die köstlichen Empfindungen, mit denen mich eure Wohltaten erfüllen,
in meinen Lobpreisungen eurer Reize treulich zum Ausdruck bringen!“ (La
Mettrie: Wollust, S. 19) Das einzige, was der Mensch zum Glücklichsein brauche,
sei ein gesunder Körper und ein vorurteilsloser Geist.
„Der Wollüstige liebt das Leben, weil er einen gesunden Körper und
einen freien Geist ohne Vorurteile hat. Er liebt die Natur und bewundert ihre
Schönheit, weil er ihren Wert kennt. Gefeit gegen den Überdruß am Leben,
versteht er nicht, wie dieses tödliche Gift in die Herzen der Menschen dringen
kann. Erhaben über die Launen des Schicksals, ist er selbst sein eigenes
Schicksal. Erhaben über den Ehrgeiz, hat er selbst nur den einen: glücklich zu
sein. Erhaben über die Fährnisse des Lebens, ist er, als epikureischer
Philosoph, frei von Furcht vor Unheil und Tod. Der Baum verliert sein Laub, er
aber bewahrt seine Liebe zum Leben. Der Strom erstarrt in der Kälte des
Winters, er aber schürt die Gluten des Sommers.“ (A.a.O., S. 80 f.)
Für eine solche Lobpreisung der Lust kann die Vernunft, die in La
Mettries physikalischem Materialismus nur Reflexion als Wahrnehmung der
Wahrnehmung sein kann, als traditionell metaphysische aber lange genug mit der
Unterdrückung der Lust faktisch verschmolzen war, keine Rolle mehr spielen. Mit
den vorherrschenden Produkten der Vernunft in der Gesellschaft, einer Vernunft,
die bisher immer eine irrationaler Herrschaft war, verwirft La Mettrie die
Vernunft überhaupt. „Oh Freude, du Gebieterin über die Menschen und Götter,
vor der alles, sogar die Vernunft, null und nichtig wird, du allein weißt, wie
sehr mein Herz dich verehrt, welche Opfer es dir gebracht.“ (A.a.O., S. 17)
Vernunft könne lediglich dazu dienen, der Wollust zu
ihrem Recht zu verhelfen. „Mögest du, lebendige Göttin, dich der Vernunft
nur bedienen, auf daß die Menschen diese vergessen können; auf daß sie mit
ihrer Hilfe ihre Freude vermehren und bewußt bejahen; auf daß die kalte
Philosophie still schweige und mich anhöre! Ich spüre die Ankunft einer
achtbaren Wollust.“ (A.a.O., S. 16 f.) In
dieser Abwertung steckt zunächst einmal die richtige Einsicht, dass das Streben
nach Glück und Lust keiner weiteren Rechtfertigung bedarf. Wenn heute vom Sinn
des Lebens geredet wird, dann wird gerade dieser Aspekt übersehen. Für eine
materialistische Philosophie gibt es keine „Suche nach dem Sinn des Lebens“,
das Ziel glücklich zu sein, das immer auch heißt, körperliche Lust zu
empfinden, und das damit individuelle Züge trägt, bedarf keiner
metaphysischen Begründung aus einem göttlichen oder menschlichen Wesen,
„sondern geht aus der Existenz einer nicht weiter zu legitimierenden, sondern
nur historisch zu erklärenden Sehnsucht nach Glück und Freiheit für die
Menschheit hervor.“ (Horkheimer: Anthropologie, S. 9f.)
Das
Recht der Vernunft und ihrer Moral
In der Reduktion der Vernunft auf instrumentelle Funktionen, als Dienerin
der Lust, trifft sich La Mettrie mit bürgerlichen Denkern wie Hobbes oder
Bentham und den ganzen Utilitarismus. In der Abwertung der zwecksetzenden
Vernunft geht La Mettrie aber einen Schritt weiter, wenn er sie angesichts der
„natürlichen“ Lust für „null und nichtig“ erklärt. Auch wenn La
Mettrie kaum gesellschaftliche Verhältnisse in seiner Philosophie theoretisch
durchdrungen hat, so korrespondiert diese Reduktion doch mit den
gesellschaftlichen Verhältnissen. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass die
Zwecke der bürgerlichen Welt durch einen entfremdeten Mechanismus vorgegeben
sind, die menschliche Vernunft nur die denkerischen Mittel bereit stellen kann,
sich diesen entfremdeten Zweck geschickt anzupassen. Für das menschliche Glück
scheint bei La Mettrie noch nicht einmal ihre instrumentelle Funktion wichtig zu
sein. Doch die Verherrlichung der sinnlichen Lust muss sich eingestehen, dass
diese Lust ganz ohne Vernunft anscheinend doch nicht auskommt. Sie bedarf der
Vernunft, um die Lust zu steigern, sie regrediert zum Autismus, wenn sie
ausgeschaltet wird, und vor allem eine losgelassene Lust ohne das Korrektiv der
Vernunft tendiert zur Selbstvernichtung – vor allem wenn man die
gesellschaftlichen Verhältnisse ausblendet, ist man deren Mechanismen hilflos
ausgeliefert.
So kann ein Liebesakt nicht ständig in orgastischen Gefühlen verharren.
Es ist „schade, daß die Momente intensiven Glücks – Liebesrausch,
Liebestaumel oder wie immer man sie nennen mag – nicht länger andauern und
das ihnen ergebene Herz so schnell wieder verlassen.“ „Doch so intensiv auch
die Freuden sind, die den Menschen außer sich geraten lassen, so sind sie doch
nur Freuden. Erst mit dem herrlichen Zustand, der auf sie folgt, kann die
befriedete Seele alle Wohltaten der Wollust in vollen Zügen auskosten.“
(La Mettrie: Wollust, a.a.O., S. 48 f.) Es ist eine höhere Art der Lust,
mit dem Anderen zu harmonieren – das aber geht nicht ohne Überlegungen. Wenn
man nur vom „ungestümen Drang“ der Leidenschaft beherrscht wird, erzeugt
dies bei der Geliebten Abwehrkräfte. La Mettrie gibt deshalb den Frauen den
vernunftgeleiteten Ratsschlag: „Ihr Schönen, beurteilt eure Liebhaber nach
ihrem Charakter! Er sei das Gewicht auf der Waage eures Herzens. Wenn sie eure
Gunst erzwingen wollen; wenn sie euch, ohne Rücksicht auf eure nur zu
berechtigte Besorgnis, den unangenehmen Folgen einer leichtsinnigen Leidenschaft
aussetzen wollen; dann könnt ihr sicher sein, daß sie es nicht ehrlich meinen;
daß es nur ungestümer Drang ist, der sie treibt; daß nicht ihr selbst es
seid, was sie an euch am meisten lieben.“ (A.a.O., S. 56)
Gefühle, sollen sie ihre gesamten Möglichkeiten realisieren, bedürfen
der Reflexion durch die Vernunft, die in La Mettries materialistischen
Philosophie allerdings auch nur eine Art physischer Sinn ist.
Die Bedeutung der Vernunft zeigt sich entgegen der
Ansicht von La Mettrie auch an der Lust, die auf unserer Fantasie beruht. Da die
Gefühle des Menschen immer auch mit seiner „Imaginationskraft“ und
entsprechenden inhaltlichen Vorstellungen zusammenhängen, kann der Mensch zwar
nicht ohne den Anderen überhaupt, aber ohne seine unmittelbare Gegenwart
Wollust genießen, für La Mettrie sogar genauso wie mit dem Anderen. „So
genießt der Wollüstige seine Vorstellungen: er erweckt sie, vertreibt die
einen und pflegt die anderen, je nach Belieben. Ich weiß zwar nicht, wie die
Imagination ihre Farben mischt und woher all die bezaubernden Illusionen kommen,
aber das Bild der Freude, das sie erzeugt, ist so schön wie die Freude
selbst.“ (A.a.O., S. 57) Das
Zentrum dieser Wollust ist dann die Seele, das Gemüt, das die Sinne
als Fenster zur Welt und das diskursive Denken scheinbar gar nicht mehr
braucht. Der Sinn zur Imagination „ist gekennzeichnet durch seine sanfte, aber
unwiderstehliche Macht. Er untersagt das Reden, das Schauen, das Hören und das
Denken, um der intensivsten der Empfindungen Raum zu schaffen. Er läßt von der
Seele und ihren Sinnen nichts mehr übrig, hebt die normalen Funktionen unseres
Organismus auf, bemächtigt sich sozusagen des ganzen Menschen und übergibt ihn
jenen höchsten Freuden, jener fruchtbaren Stille der Natur, die ein Sterblicher
nur bei Strafe des Todes stört. Seine ewige Macht ist, kurz gesagt, so
gewaltig, daß die Vernunft, diese hochmütige Göttin, ihm untertan ist. Sie
ist, wie all die anderen Sinne, als glückliche Sklavin seinen Freuden stets zu
Diensten.“ (A.a.O., S. 60) Hatte
La Mettrie am Anfang die sinnliche Lust mit der Geliebten als das höchste Glück
propagiert, so führt ihn die Konsequenz unreflektierter Lust, d.h. einer
Lust ohne vernünftige Leitung, zur Negation der sinnlichen Lust und in die
autistische Isolation von der Wirklichkeit und den anderen Menschen, die doch
Voraussetzung der Wollust sein sollten. Er wird zur fensterlosen Monade. (Vgl.
Mensching: Autonomie, S. 194 ff.)
Vernunft ist für La Mettrie selbst nur eine Art Sinn
und damit etwas Physisches. Als Physisches enthält sie aber kein Kriterium, um
der ebenfalls physischen Lust moralische Schranken zu setzen. Dem Ausleben der
Triebe kann die physisch bestimmte Vernunft nichts entgegensetzen. Wenn La
Mettrie allen Menschen zugesteht, ihre Triebansprüche zu verwirklichen, dann
besteht ständig die Gefahr, vor allem unter bürgerlichen Verhältnissen, dass
konkurrierende Triebansprüche in Konflikt geraten. „Subjektive Reflexion der
zunächst blind egoistischen Triebe erscheint daher als einzige Möglichkeit,
den Widerstreit der Ansprüche zu schlichten. Die Menschen, die als Triebwesen
selber Natur sind, können nur durch reflektierende Entäußerung moralisch
handelnde Subjekte werden, die Natur in sich zivilisieren. La Mettrie selbst hat
die geforderte Leistung auf den Begriff gebracht: 'raffinement de l'amour-propre'.
Daraus ergibt sich die zentrale Frage, nach welchen objektiven Kriterien die
postulierte Reflexion des Egoismus sich vollziehen soll.“ (Mensching:
Autonomie, S. 202 f.) Wirklich erfüllen
kann die Vernunft ihre Rolle als Regulator des physischen Trieblebens nur, wenn
sie selbst nicht als physisch bestimmt ist, sondern als geistige gegenüber der
Physis eine gewisse Autonomie erlangt. Dieser Gedanke mündet letztlich in Kants
praktischen Imperativ.
Die Lust ohne Leitung durch die
Vernunft tendiert zur Unersättlichkeit – was La Mettrie positiv bewertet, um
sie von der kirchlichen oder bürgerlichen Moral zu befreien. Steigert man aber
die Lust ins Unersättliche und zur „wahrhaftigen Ekstase“, dann schlägt
sie in Gewalt gegen andere oder den Träger der Gefühle selbst um. Das
Umschlagen von Lust in Gewalt macht er am Tyrannen deutlich: „Alsdann,
grausamer Fürst! Wenn du infam genug bist: Koste die Tyrannis richtig aus!
Genieße sie in vollen Zügen! Denn die leidige Natur wird dich daran nicht
hindern. Herostratos wählte, um sich unsterblich zu machen, das Feuer;
so wähle du das Blut! Verfeinere die Techniken der Folter, so wie ein rechter
Lebemann die des Vergnügens! Und finde daran, sofern dies möglich ist, die
gleiche Freude! Böses zu tun ist für dich das einzige Gut, und Gutes zu tun wäre
dir eine Qual. Ich werde dir deinen abscheulichen Zwang nicht nehmen (könnte
ich es überhaupt?), der die Quelle deines unseligen Glücks ist. Bären, Löwen
und Tiger lieben es, andere Tiere zu zerfleischen; da du blutgierig bist wie
sie, ist es nur recht und billig, daß du den gleichen Neigungen nachgibst.
Dennoch bedaure ich dich, daß du dich so am allgemeinen Elend weidest; doch wer
würde nicht erst recht einen Staat bedauern, in dem sich nicht ein Mann fände,
der tugendhaft genug ist, um ihn – und sei es auf Kosten seines Lebens – von
einem Ungeheuer wie dir zu befreien?“ (La Mettrie: Antiseneca, S. 111 f.)
Was bei La Mettrie zwar nicht von dem Standpunkt der
Lust her kritisiert wird, aber gegen die Moral verstoßend und durch den Angst
erzeugenden Hinweis auf einen möglichen Tyrannenmörder relativiert wird,
erscheint in den Romanen des Marquis de Sades scheinbar als gerechtfertigt.
Seine Titelheldin und Ich-Erzählerin Juliette prostituiert sich dem Papst und
philosophiert mit ihm über das unbegrenzte Ausleben der Gefühle, das ohne
irgendwelche Skrupel zu geschehen habe. Nachdem sie mit dem Papst, sie nennt ihn
„Braschi“, eine Orgie gefeiert hat, in der „alle ausgesuchten Arten der
Ausschweifung“ vorkommen, reflektiert sie mit ihm über die Lust am Morden:
„'Oh, Braschi', rief
ich in einem Augenblick der Nüchternheit, 'was würden die Menschen, denen du
imponierst, sagen, wenn sie dich inmitten dieser Schändlichkeiten sehen würden?'
'Sie
würden mir die Verachtung entgegenbringen, die ich für sie empfinde',
antwortete Braschi, 'und trotz ihres Hochmuts würden sie ihre Torheit einsehen.
Was soll's, fahren wir fort, ihnen etwas vorzugaukeln. Die Herrschaft des
Irrtums wird nicht lange dauern, man muß sie begießen.'
'Ja,
ja,' rief ich, 'betrügen wir die Menschen, das ist einer der größten Dienste,
die wir ihnen leisten können... Braschi, werden wir, wenn wir in den Tempel
gehen, ein paar Menschen opfern?“
'Gewiß',
sagte der Heilige Vater zu mir: 'Blut muß fließen, wenn die Orgien gut sein
sollen. Da ich auf dem Thron des Tiberius sitze, ahme ich ihn in meinen Wollüstigkeiten
nach. Und als den, dessen Seufzer sich mit den jammernden Gesängen des Todes
vermischen.'
'Gibst
du dich öfter diesen Ausschweifungen hin?'
'Es
vergeht kaum ein Tag, an dem ich mich nicht in sie hineinstürze; oh, Juliette!
Es gibt keinen Tag, an dem ich mich nicht mit Blut besudele.' (de Sade:
Juliette, S. 180 f.)
Dass gerade der Papst, der als höchste moralische Autorität gilt, den mörderischen
Libertin hergeben muss, ist gewiss mit den aufklärerischen Intentionen von de
Sade zu erklären. Indem aber aus der skrupellosen Ich-Perspektive von Juliette
erzählt wird, übernimmt der Leser lange Zeit diese Perspektive, erkennt die
Funktion der herrschenden Moral, nämlich bloßes Herrschaftsmittel zu sein, und
in dieser Episode wie bei La Mettrie als bloßes Ornament der Lust zu fungieren.
Die eigentliche Absicht enthüllt sich erst, nach ermüdender Aufzählung von
Orgien und Morden, am Schluss des Romans: Juliette, die nur noch Lust empfindet,
wenn sie ihre Mordgier immer mehr steigert, ist am Ende völlig vereinsamt,
nachdem sie auch noch ihre harmlose und gute Schwester opfert, indem sie diese
in ein Gewitter hinaus schickt, um zu sehen, ob der Gott, falls es ihn gibt, die
Moralische verschont – ihre Schwester wird vom Blitz erschlagen.
Aus den Zitaten von Marquis de Sade lässt sich
ablesen, dass Gefühle etwas mit der Gesellschaft und ihren Herrschaftsverhältnissen
zu tun haben. Der Marquis wehrt sich gegen die Herrschaft seiner Zeit, die
ihn eingesperrt hat, indem er ihre Obszönitäten zynisch offen legt. Verstöße
gegen die vorherrschende Moral werden in seinen Orgien als zusätzlicher
Lustgewinn dargestellt nach dem Motto: Mit der Wonne einer Nonne. Darin zeigt
sich die Widersprüchlichkeit der Moral unter herrschaftlich verfassten
Gesellschaften. Moral ist hier eine ideelle Existenzbedingung der Herrschaft und
zugleich ein Herrschaftsmittel, denn ohne moralische Verankerung der Herrschaft
im Bewusstsein würde die Mehrheit gegen die Eigentümer der Produktionsmittel
aufbegehren, letztes Auskunftsmittel bliebe nur das unproduktive Schwert. Dies
ist der Grund, warum der Papst und Juliette als Mitglieder der herrschenden
Klasse Moral nach außen heucheln müssen und ihre sadistische Triebbefriedigung
nur im Boudoir pflegen können.
Moral hat aber auch vernünftige Gründe auf ihrer
Seite, die jede Art Herrschaft überschreiten. Sie enthält das Versprechen, die
menschlichen Beziehungen vernünftig zu regeln und die Triebbefriedigung ohne
Schädigung anderer zu organisieren. Im kantischen Imperativ, die Menschen
niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich selbst zu
behandeln, liegt der moralische Grund, der es verbietet, andere zu bloßen
Objekten meiner Triebbefriedigung zu machen, wie die Opfer in de Sades
Fantasien. Das Privileg, andere zu Opfern zu machen, und sei es als
auszubeutende Lohnabhängige, und die Gestalt vernünftiger Moral bei Kant, sind
in der bürgerlichen Gesellschaft unentwirrbar miteinander verquickt. Die
kapitalistische Gesellschaft enthält ständig das Versprechen von Gleichheit
und Freiheit und verhindert durch ihre Struktur, insbesondere die Eigentumsverhältnisse,
die Erfüllung dieses Versprechens. Inwieweit Moral von Herrschaftsverhältnissen
getrennt und dann wie selbstverständlich gelebt werden kann, ist ein Frage, die
am Schluss dieses Essays erörtert wird.
Die moralische Notwendigkeit, dass die Vernunft die Gefühle
leiten muss, sollen diese das Individuum und seine Gesellschaft nicht zerstören,
darf aber nicht ins Gegenteil umschlagen, indem die Gefühle verteufelt werden
und die Vernunft zur moralischen Selbstüberhebung wird – bis hin zur
Forderung, alle fleischlichen Forderungen soweit wie möglich zu verdrängen und
asketisch zu leben. Selbst bei Kant spukt sein christlich-pietistischer
Hintergrund bis in seine Auffassung vom Menschen hinein, wenn er dem
intelligiblen Charakter des Menschen (die Vernunft bestimmten Handlungen) das
Gute zuordnet, den sensiblen Charakter (der Bestimmung der Handlungen durch das
Leibliche) mit dem „Bösen“ verbindet.
„(...) ein mit praktischem Vernunftvermögen und Bewußtsein
der Freiheit seiner Willkür ausgestattetes Wesen (eine Person) sieht sich in
diesem Bewußtsein, selbst mitten in der dunkelsten Vorstellung, unter einem
Pflichtgesetze und im Gefühl (welches dann das moralische heißt), daß ihm,
oder durch ihn anderen recht und unrecht geschehe. Dieses ist nun schon selbst
der intelligible Charakter der Menschheit überhaupt und in so fern ist der
Mensch seiner angebornen Anlage nach (von Natur) gut. Da aber doch auch die
Erfahrung zeigt: daß in ihm ein Hang zur tätigen Begehrung des Unerlaubten, ob
er gleich weiß, daß es unerlaubt sei, d.i. zum Bösen sei, der sich so
unausbleiblich und so früh regt, als der Mensch nur von seiner Freiheit
Gebrauch zu machen anhebt, und darum als angeboren betrachtet werden kann: so
ist der Mensch, seinem sensiblen Charakter nach, auch als (von Natur) böse zu
beurteilen, ohne daß sich dieses widerspricht, wenn vom Charakter der Gattung
die Rede ist; weil man annehmen kann, daß dieser ihre Naturbestimmung im
kontinuierlichen Fortschreiten zum Besseren bestehe.“ (Kant: Hinsicht, S. B
318)
Dagegen kann man einwenden, dass die Erfahrung ebenso
zeigt, dass die Vernunft in Selbstüberschätzung, „Schwärmerei“ (Kant),
Tollheit des Religiösen, als bloßer Formalismus oder in ihrer Reduktion auf
instrumentelle usw. von ihrem avancierten Stand abweichen kann und zum
„Schlechten“ verleitet. Danach wäre das „Böse“ (nach Kant säkularisiert
als Hang zum Unerlaubten) ebenso oft, wenn nicht öfter in der Geschichte durch
die „Höllengeburten“ (Goya) der Vernunft verursacht. In Bezug auf die
Vernunft kommt alles Schlechte von ihr durch ihre Unbegründetheit, durch ihre
unwahre Form, durch sie, insofern sie nicht durch die Folter der Reflexion
gegangen ist und sich nicht einer gründlichen Kritik der reinen Vernunft
unterzogen hat. Bedenkt man noch das Provisorium der menschlichen Vernunft, ihr
nur allmähliches Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit, vor allem insoweit
es das Denken des Ganzen, die Philosophie, betrifft, dann ist eine pauschale
Abwertung der Gefühle höchst unangebracht. Daran ändert auch nichts die
notwendige Leitungsfunktion der Vernunft, denn Gefühle sind nicht
selbstreflexiv.
Jeder Triebimpuls bedarf, um in seiner Konsequenz zur
Handlung zu werden, des Willens, der diesen Impuls umsetzt. Der freie Wille als
geistiges Vermögen kann aber immer die Handlung zulassen oder ablehnen oder überhaupt
erst einmal die Richtung der Handlung festlegen. Selbst wenn er dem inneren
Drang durch das Leibliche nachgibt, ist das seine Entscheidung, nicht die des
Dranges, der grundsätzlich als blind anzusehen ist. Es kommt also nicht nur auf
die Triebe an, sondern wesentlich auf die Beschaffenheit des Verstandes und der
Vernunft (und selbstverständlich die Kraft des Willens), ob, wie und in welcher
Weise ein Trieb sich als Handlung entäußert. Eine Vernunft, die unsere Triebe
prinzipiell als böse ansieht und sie unterdrückt, ist dann ebenso falsch wie
eine, die allen Triebimpulsen unreflektiert folgt. Faktisch wird bereits in der
Kindheit dieses Verhältnis mit mehr oder weniger Rigidität eingeübt, sonst könnte
das Zusammenleben überhaupt nicht funktionieren. Schlägt die Sozialisation
fehl, dann entstehen die Probleme, die dann Gerichte und Psychologen beschäftigen.
Bei der Untersuchung der Gesellschaft und ihres
Einflusses auf die Individuen und ihr Gefühlsleben bleiben diese zunächst
abstrakten Überlegungen ein Moment dieses komplexen Verhältnisses von Gefühl
und Vernunft.
Auch La Mettrie, der von der Gesellschaft mehr oder weniger abstrahiert
und sie als gegeben unterstellt, ist in seinen Ratschlägen, die Gefühle
auszuleben und zugleich zu kultivieren, von dieser Gesellschaft abhängig. Er
gehört einem Stand an, der es sich leisten kann, ohne zu arbeiten, seine Lust
auszuleben. Zugleich weiß La Mettrie aber auch, dass dies nicht allen
Mitgliedern der Gesellschaft wegen ihres Standes möglich ist, obwohl seiner
Forderung nach „die Glückseligkeit der ganzen Menschheit“ zukommen sollte.
Die Mehrheit gehört als Bauern, Manufakturarbeiter und Tagelöhner dem 3. Stand
an, in dem nur das Bürgertum die
Mittel zum Glück besitzt, während die meisten dieses Standes froh sein können,
wenn sie nicht hungern müssen. Und selbst die Vermögenden sind durch ihre
Charaktereigenschaften, die sie im ökonomischen und politischen Konkurrenzkampf
benötigen, unfähig zum Glück.
„Das so weit verbreitete Bedürfnis nach Vergnügungen
aller Art beweist zur Genüge, daß im allgemeinen die Menschen an sich bzw.
organisch eher unglücklich sind als glücklich. Besonders Menschen, deren
Talente sehr beschränkt sind, stellen, vor Habsucht, Ehrgeiz, Eitelkeit und
Neid zerfressen, unbeschränkte Ansprüche. Ich bedauere dies der Natur wegen;
denn es würde ihr meines Erachtens mehr Ehre machen, wenn es anderes wäre.
Mehr noch bedauere ich es meiner Brüder, der Menschen wegen; denn es schmerzt
mich zu sehen, daß die große Mehrzahl von ihnen gar nicht fähig ist, Glück
zu erleben, es sei denn ausnahmsweise einmal und zu einem hohen Preis.
Diejenigen, die mit geringen Mitteln glücklich sind, stechen unter den Menschen
hervor wie der Fixstern unter den Planeten, wie eine Rose unter Disteln oder wie
ein strahlender Diamant unter Glitzersternen. Sie sind rar, daß man sie zählen
könnte, während die Zahl derer, in deren Leben die Summe der Übel die Summe
der Güter weit übertrifft, unsäglich groß ist. Eine traurige Wahrheit!“
(La Mettrie: Antiseneca, S. 140)
Der Grund für diesen Zustand liegt in der entfremdeten Arbeit. In der
sich durchsetzenden bürgerlichen Welt ist Arbeit für die große Mehrheit
Lohnarbeit. Das kann auch die Gefühlswelt nicht unberührt lassen. Arbeit und
Lohn für die Arbeit fallen auseinander. Der Zweck der Arbeit wird mir
vorgegeben, er ist durch den Kapitalmechanismus bestimmt. Während ich 8, 10,
12, 14 oder mehr Stunden arbeite, muss ich meine Triebe und emotionalen Bedürfnisse
unterdrücken, während ich meinen Lohn verbrauche und die daraus folgenden
bescheidenen Freuden genießen kann, arbeite ich nicht. Die Triebunterdrückung
und den Triebaufschub, die mir das Realitätsprinzip, das die Anforderungen der
Lohnarbeit in mir repräsentiert, aufherrscht, ist die Bedingung meines
„Kampfes ums Dasein“, d.h. meiner abhängigen Beschäftigung zur Sicherung
meines Lebensunterhalts.
Das Realitätsprinzip widerspricht – in
freudschen Begriffen – dem Lustprinzip, dem Bedürfnis,
unmittelbar meine Triebe auszuleben. Ich muss meine Triebregungen unterdrücken,
im gewitzigteren Fall „sublimieren“, d.h. die Triebenergien in eine geistige
Arbeit ablenken (vgl. Fromm: Therapie, S. 380). Triebunterdrückung oder
Sublimierung der Triebe aber sind repressiv, sie deformieren mich. Wenn nun ein
wesentlicher Teil meines Lebens in Triebunterdrückung und Triebaufschub
besteht, dann hat das Auswirkungen auf meine Gefühlsstruktur, sie wird
reduziert, im schlimmsten Fall stumpfe ich ab.
Wenn nun die Gesellschaft
entscheidend für die Gefühle der Individuen in ihr ist, dann kann man nicht
mehr nur anthropologisch argumentieren, wie La Mettrie es macht, sondern muss
die sozialen Bedingungen, die in unser Leben und unser Gefühlsleben eingreifen,
reflektieren. Voraussetzung dafür ist aber zunächst einmal eine radikale
Kritik der philosophischen Anthropologie. Wie die Kritik der weltlichen Verhältnisse
eine Kritik der Religion voraussetzt, die den ordo rerum immer schon als
Emanation des Göttlichen festschriebt und legitimiert, so muss auch das
statische „Menschenbild“ der Anthropologie kritisiert werden, einer
Anthropologie, die nach der Kritik der Religion deren Rollen in der Frühneuzeit
übernommen hatte.
Kritik
der philosophischen Anthropologie
Gegenposition zu einer Historizität des Gefühlslebens ist die These
von einem einheitlichen überhistorischen Menschenwesen, die im 20.
Jahrhundert Scheler wieder aufgegriffen hat. Danach gibt es ein menschliches
Wesen, das den Kern darstellt, der durch historische Gegebenheiten nur
unwesentlich modifiziert wird. Historizität der Gefühlsstruktur und überhistorisches
Menschenwesen schließen sich kontradiktorisch aus. Die Widerlegung eines
apriorischen menschlichen Wesens wäre eine Begründung seiner Historizität.
Nun hat bereits Hegel erkannt, dass jedes Jahrhundert seine eigene Bestimmung
des Menschen hat. So ist der Mensch nach Hobbes gewalttätig, misstrauisch und
ruhmsüchtig, sein theoretischer Nachfolger John Locke bestimmt ihn eine Epoche
darauf als ursprünglich gut und friedlich. Hobbes hatte die historische
Erfahrung des Bürgerkrieges in England als Hintergrund, der ihn nach einem
absoluten Monarchen rufen lässt; Locke hatte den sich durchsetzenden
Parlamentarismus mit eigentumsmäßig begrenzter Volkssouveränität vor sich,
den er rechtfertigt. Beide schließen vom Menschen im Naturzustand auf das
politische System, das sie für richtig halten. Tatsächlich aber projizieren
sie ihre Erfahrung mit dem Menschen ihrer Zeit in einen fiktiven Naturzustand
hinein, um damit wieder ihr politisches System zu begründen, das sie anstreben
und legitimieren wollen. Das aber ist ein klassischer Zirkelschluss, heute
„naturalistischer Fehlschluss“ genannt. Das menschliche Wesen, das
apriori sein soll, wird aposteriori gewonnen (Hegel: Naturrecht, S. 445).
Was von dem Menschen als allgemeine Bestimmung übrig bleibt, zieht man das
historisch Entstandene ab, sind wenig aussagende „anthropologische
Konstanten“, wie z.B. dass der Mensch einen Kopf hat mit einem relativ zu den
nächsten Verwandten im Tierreich großen Gehirn, dass der Mensch zu großen Gefühlen
fähig ist, diese aber auch abstumpfen lassen kann usw. Über das, was er seinen
Wesen nach ist, sagen diese allgemeinen Bestimmungen fast nichts aus. Selbst die
berühmte Definition von Aristoteles, der Mensch sei ein vernunftbegabtes
Lebewesen, kann uns nicht sagen, was denn der Inhalt seiner Vernunft ist. (Kant
hat deshalb vorgeschlagen, zu bestimmen, was der Mensch zukünftig im
moralischen Sinne sein soll. (Vgl. Kant: Anthropologie, S. 440, und auch den
letzten Abschnitt.))
Wenn aber ein einheitliches Menschenwesen in der Geschichte nicht rational
aufweisbar ist, dann kann immer nur etwas über das Typische des Menschen einer
Epoche oder einer bestimmten Region ausgesagt werden. Noch Freud, wenn er den
unreglementierten Gefühlen die Tendenz zuspricht, „polymorph pervers“ zu
sein, unterstellt ein naturgegebenes Wesen des Menschen, denn “pervers“ heißt
unnatürlich. Richtig in meinem Sinne wäre der Ausdruck „polymorph
variabel“ - was dann erlaubt und was nicht erlaubt ist, wären Bestimmungen
historischer Gesellschaften bzw. der Vernunft auf einem historischen Stand. Der
Grund, warum die statische Anthropologie trotz ihrer Widerlegung so beliebt war
und ist, hat schon Horkheimer erkannt. „Die moderne philosophische
Anthropologie entspringt demselben Bedürfnis, das die idealistische Philosophie
der bürgerlichen Epoche von Anfang an zu befriedigen sucht: Nach dem
Zusammenbruch der mittelalterlichen Ordnungen, vor allem der Tradition als
unbedingter Autorität, neue absolute Prinzipien aufzustellen, aus denen das
Handeln seine Rechtfertigung gewinnen soll. Diese Anwendung des Denkens,
begriffliche Zusammenhänge zu entwerfen und aus ihnen das ganze menschliche
Leben sinnvoll zu begründen, die geistige Anstrengung, das Schicksal jedes
Einzelnen und der ganzen Menschheit in Einklang mit einer ewigen Bestimmung zu
bringen, gehört zu den wichtigsten Bestrebungen der idealistischen Philosophie.
Sie wird vor allem durch den widerspruchsvollen Umstand bedingt, dass in der
neueren Zeit die geistige und personale Unabhängigkeit des Menschen verkündet
wird, ohne dass doch die Voraussetzungen der Autonomie, die durch Vernunft
geleitete solidarische Arbeit der Gesellschaft, verwirklicht wäre. Unter den
gegenwärtigen Verhältnissen tritt einerseits die Produktion und Reproduktion
des gesellschaftlichen Lebens, das „Wertgesetz“, nicht als Motor der
menschlichen Arbeit und der Weise, in der sie sich vollzieht, hervor. Der ökonomische
Mechanismus wirkt sich blind und deshalb als beherrschende Naturmacht aus. Die
Notwendigkeit der Formen, in denen die Gesellschaft sich erneuert und entwickelt
und die ganz Existenz der Individuen sich abspielt, bleibt im Dunkeln.
Andererseits haben diese Individuen es gelernt, für die gesellschaftlichen
Lebensformen, die sie durch ihr tägliches Handeln aufrecht erhalten und
gegebenenfalls beschützen, also für die Verteilung der Funktionen bei der
Arbeit, für die Art der hergestellten Güter, für die Eigentumsverhältnisse,
Rechtsformen, die Beziehungen der Staaten usw. Gründe zu fordern. Sie wollen
wissen, warum sie so und nicht anderes handeln sollen, und verlangen eine
Richtschnur. Die Philosophie sucht dieser Ratlosigkeit durch metaphysische
Sinngebung zu steuern. Anstatt dem Anspruch der Individuen nach einem Sinn des
Handelns durch Aufdeckung der gesellschaftlichen Widersprüche und durch Hinweis
auf ihre praktische Überwindung zu genügen, verklärt sie die Gegenwart, indem
sie die Möglichkeit des 'echten' Lebens oder gar des 'echten Todes zum Thema wählt
und dem Dasein tiefere Bedeutung zu geben unternimmt.“ (Horkheimer:
Anthropologie, S. 3 f.)
Die Historizität gilt für das Gefühlsleben und die Triebstruktur
genauso wie für die Vernunft, die nicht wie eine bare Münze eingesteckt werden
kann, sondern sich durch Argumente und Gegenargumente erst herausbildet.
Allerdings enthält die Vernunft im Gegensatz zu den Gefühlen auch ein
absolutes Moment, etwa als Logik, und sie kann einen avancierten Stand
erreichen, der nicht durch die Verarbeitung aktueller Erfahrungen allein
entsteht, sondern die Geschichte der Philosophie und Vernunft seit ihrer
Entdeckung im antiken Griechenland und anderswo enthält, also quasi die
Reflexion der ganzen Erfahrung, welche die Weltgeschichte hervorgebracht hat.
Teilweise gilt letzteres auch für die Triebstruktur, insofern sie ein
historisches Produkt ist, also Geschichte enthält – man denke etwa an den
romantischen Liebesbegriff, der im Minnesang erfunden, im „Sturm und Drang“
wieder gegen die Konvention propagiert wurde
und sich in der Romantik endgültig als allgemeiner Wunsch in der
Vorstellungswelt der jungen Menschen durchgesetzt hat.
Der gerade angewendete Begriff von Vernunft ist hier eine bloße
Behauptung und an anderer Stelle begründet (etwa in Hegels „Phänomenologie“
- dazu neuerdings Bensch: Perspektiven des Bewußtseins. Hegels Anfang der Phänomenologie
des Geistes). Enthält der avancierte Stand der Vernunft „die ganze Arbeit der
Weltgeschichte“ (Hegel), dann kann die Vernunft nicht nur die Dienerin des Gefühlslebens
und der Wollust sein wie bei La Mettrie. Sie muss auch ein Bestimmungsgrund der
menschlichen Glückseligkeit werden und der sinnlichen Lust ihren Bereich
abstecken, in dem sie sich ausleben kann, soweit das Gefühlsleben allgemeine
Bestimmungen der Moral benötigt. Und Vernunft muss die historischen Bedingungen
reflektieren, die unsere Triebstruktur bestimmen und damit unsere Glücksmöglichkeiten.
Die Wissenschaft nun, die sich der Pflege des Gefühlslebens mit ihren
Ratschlägen widmen sollte, ist die Psychologie. Doch auch diese ist ständig in
Gefahr, ins Ideologische abzugleiten.
Psychologie
als Ersatzphilosophie?
Psychologie ist eine wissenschaftliche Disziplin, deren Gegenstand „die
Formen und Gesetzmäßigkeiten des Erlebens und Verhaltens“ von Menschen und
Menschengruppen sind (Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bde. 2001). Nach Kant ist
die Psychologie eine empirische Wissenschaft, die untersucht, wie wir wirklich
denken (und fühlen) – im Gegensatz etwa zur Logik, die bestimmt, wie wir
denken sollen, damit Wahrheiten als Resultat des Denkens entstehen. An dieser
Unterscheidung orientiert sich auch noch Sigmund Freud, wenn seine Psychoanalyse
als eine besondere Art der Psychologie dazu dienen soll, „Unstimmigkeiten
zwischen dem Denken und dem Handeln der Menschen und der Vielstimmigkeit ihrer
Wunschregungen“ zu untersuchen und bei krankhaften Verhalten eine Heilung zu
bewirken (Freud: Unbehagen, S. 65).
Auf jeden Fall sind die Gefühle des Menschen Gegenstand dieser
Wissenschaft. Als solche aber ist sie Vernunft und nicht Gefühl. Heißt das
Wort 'psyche' Seele und 'logos' Rede, Wort, Vernunft, Wissenschaft, in dieser
Kombination also Wissenschaft mit dem Gegenstand „Seele“, dann ist die
Psychologie eine Wissenschaft, die von dem menschlichen Vermögen des Verstandes
und der Vernunft betrieben wird bzw. aus diesem Vermögen als objektivierter
Verstand und objektivierte Vernunft existiert. Auf die Schwierigkeiten, die eine
solche Wissenschaft bereitet, kann ich hier nicht eingehen. Auf jedem Fall sind
ihre Resultate kein sicheres Wissen, wie es etwa die Naturwissenschaften
hervorbringen können, sondern sie kann nur „zur Erkenntnis bloß zufälliger
Gesetze führen“, d.h. solcher Gesetze, „wie es ist unter den mancherlei
subjektiven Hindernissen und Bedingungen“ (Kant: Logik, S. 435). Der
Psychologe kann immer nur aus „physiologischen Anzeichen“ (und sei dies der
Schall der Worte) auf das zugrunde liegende Gefühl oder Triebgeschehen schließen.
Das macht diese Wissenschaft so ungenau.
Freud macht diese mangelnde
Exaktheit am Beispiel des religiösen Gefühls, das ein ozeanisches ihm
beschrieben wurde, deutlich. „ich selbst kann dies 'ozeanische' Gefühl nicht
in mir entdecken. Es ist nicht bequem, Gefühle wissenschaftlich zu bearbeiten.
Man kann versuchen, ihre physiologischen Anzeichen zu beschreiben. Wo dies nicht
angeht – ich fürchte, auch das ozeanische Gefühl wird sich einer solchen
Charakteristik entziehen -, bleibt doch nichts übrig, als sich an den
Vorstellungsinhalt zu halten, der sich assoziativ am ehesten zum Gefühl
gesellt. Habe ich meinen Freund richtig verstanden, so meint er dasselbe, was
ein origineller und ziemlich absonderlicher Dichter seinem Helden als Trost vor
dem freigewählten Tod mitgibt: 'Aus dieser Welt können wir nicht fallen'. Also
ein Gefühl der unauflösbaren Verbundenheit, der Zusammengehörigkeit mit dem
Ganzen der Außenwelt. Ich möchte sagen, für mich hat dies eher den Charakter
einer intellektuellen Einsicht, gewiß nicht ohne begleitenden Gefühlston, wie
er aber auch bei anderen Denkakten von ähnlicher Tragweite nicht fehlen wird.
An meiner Person könnte ich mich von der primären Natur eines solchen Gefühls
nicht überzeugen. Darum darf ich aber sein tatsächliches Vorkommen bei anderen
nicht bestreiten. Es fragt sich nur, ob es richtig gedeutet wird und ob es als 'fons
et origo' aller religiösen Bedürfnisse anerkannt werden soll.“ (Freud:
Unbehagen, S. 66)
Die Psychologen müssen, wenn sie
sich wissenschaftlich mit Gefühlen befassen, Schlüsse ziehen, aus physischen
Anzeichen auf den psychischen Ablauf in der Seele schließen. Die Betätigung
des Schlussvermögens ist die Betätigung ihrer Vernunft.
Psychologie hat zwar die Psyche mit den Gefühlen zum Gegenstand, auch
das Schließen ist ein psychischer Vorgang, aber als Wissenschaft ist die
Psychologie ohne Gefühl. Ohne darauf zu achten, was im Wissenschaftler, der sie
weiterbringt, oder dem Studenten der Psychologie, der sie lernt, vorgeht, kommt
es nur auf ihre objektivierten Resultate an. Als Wissenschaft beruht die
Psychologie auf der Logik und den Gesetzen der Vernunft, ohne die sie noch
nicht einmal den empirische Gang nehmen könnte, den sie heute hat oder einmal
erreichten kann. Es ist deshalb eine Anmaßung von beschränkten Fachidioten,
wenn sie ihre Psychologie – in welcher Spielart auch immer – zur
Grundlagenwissenschaft aufspreizen, alles nur noch psychologisch deuten und aus
dem Menschen eine Marionette seiner Gefühle oder seiner Anlage oder seiner Gene
oder seiner Gehirnströme machen. Da ein Grund für die Deutung des Gefühlslebens
der freie Wille ist, wird dieser zum
Lieblingsfeind einiger Psychologen. Denn wenn dieser eine Illusion ist, dann wären
wir determiniert und die Psychologie nähme den Gang einer Wissenschaft mit
einem notwendigen Gegenstand.
Jeder Schluss, den diese Negatoren
des freien Willens ziehen, ist eine kreative Leistung, die den freien Willen
immer schon voraussetzt. Der Schluss benötigt als kategorischer Vernunftschluss
wie als induktiv-empirischer Schluss einen Mittelbegriff, der nicht einfach
vorhanden ist, sondern der Spontaneität des Wissenschaftlers sich verdankt,
auch wenn diese Spontaneität im gültigen Resultat erloschen, nicht mehr
sichtbar ist. Ohne freien Willen aber wäre die menschliche Spontaneität nicht
von der tierischen zu unterscheiden. Frei ist ein Wille dann, wenn er neu ohne
äußere oder innere Bestimmungsgründe eine Idee (Mittelbegriff) in die Tat
(Schlussfolgerung) umsetzt. Selbst der Student, der diesen Schluss dann
„nur“ nachvollzieht, muss seinen freien Willen einsetzen, wenn er ihn nur
verstehen will, denn auch dies ist ein Akt des freien Willens. (Das Gegenteil wäre
ein Hören von Worten, ohne ihre Bedeutung zu verstehen und ohne die Konsequenz
im Schluss einzusehen.)
Was bedeuten diese Überlegungen für das Verhältnis von Gefühl und
Vernunft? Mit La Mettrie und de Sade habe ich versucht zu zeigen, dass ohne das
Korrektiv der Vernunft das Gefühl selbstzerstörerisch wirkt. Es bedarf der
Kultivierung und Zivilisierung nach den Maßstäben der Vernunft. Auch die
Wissenschaft, die unsere Gefühle zum Gegenstand hat, basiert, richtig
verstanden, auf der Vernunft. Die Resultate dieser Wissenschaft haben aber –
wie oben gezeigt – eine gewisse Unsicherheit. Diese ist aber im Grund kein großer
Verlust für die menschliche Erkenntnis, denn die Spontaneität, die Willkür,
das Fantastische unserer Gefühle, die exakte Erkenntnis von ihnen verhindert,
ist immer auch die Hauptquelle der Lust, letztlich der Lust am Leben. Man stelle
sich vor, unser Gefühlsleben funktionierte nach apodiktischen Gesetzen. Jeder
Winkeldespot könnte dann mit seinen Psychologen als „Ingenieuren der Seele“
die Menschen bis ins intimste Seelenleben beherrschen. (Wie weit das schon heute
geht – weiter unten.) Es ist dies immer wieder versucht worden, am meisten
Erfolg darin hat wohl die gegenwärtige Bewusstseinsindustrie, die nach
Horkheimer und Adorno zu einem System zusammen geschossen ist, das jedem etwas
bringt und in dieser Vielfalt doch nur die eine Botschaft hat: die Affirmation
des Bestehenden. (Siehe unten)
Das Entscheidende aber, das man aus der Reflexion der Psychologie als
Wissenschaft ziehen kann, ist die Einsicht: Alle psychischen Lebensregeln,
alle psychischen Tricks, alle geregelten Selbstmanipulationen haben bloß den
Rang von Kochrezepten. Wer sie – falls sie begründet sind – nicht
beachtet, dessen Essen wird meist unschmackhaft – sprich: sein Gefühlsleben
versauert. Wenn es dennoch mal klappt, dann wäre dies völlig zufällig. Wer
sich aber daran hält, kann auch nicht mit Notwendigkeit eine Verbesserung
seines Gefühlslebens erwarten, es wird nur ein wenig wahrscheinlicher. Das gilt
auch für die in diesem Essay angedeuteten Vorschläge. Die Vielfalt des Lebens,
die Weite der Individualität – an sich eigentlich etwas Angenehmes - wird
heute durch gesellschaftliche Bedingungen beeinflusst, die diese Vielfalt trotz
äußerlicher Buntheit einschränkt und deformiert.
Da es aber heute eine Fülle von Lebensratschlägen gibt, Psychologie
boomt, ist es angebracht zu zeigen, wie mit dieser Wissenschaft getrickst wird
und Ideologien bedient werden. Schon früher habe ich in einem Essay die
Hirnforschung in ihren Überhebungen kritisiert. (Vgl. den Essay über den
freien Willen) Eine andere Übersteigerung über die Grenzen der
Wissenschaftlichkeit hinaus ist die These vom Aggressionstrieb, die noch Freud
in die Welt gesetzt hat, die aber zugleich auch zeigt, wie weit wir bereits in
unserem Charakter von den brutalen sozialen Verhältnissen geprägt sind. Selbst
die seriöse Psychologie, die sich der Heilung von psychisch Kranken nach
anerkannten Standards verschrieben hat, geht von einer bestehenden Vernunft aus,
an die sie den Kranken und psychisch Labilen anpassen will. In diesem Sinn ist
Psychologie affirmativ und ihre Methoden repressiv. Sie versucht das Individuum
an die herrschende Ordnung anzupassen. Ihre Vernunft ist die der
Herrschaftsordnung, also eine begrenzte. Sie will nicht das Gefühlsleben
befreien – das würde unter den gegebenen Verhältnissen zu einer Regression
der Gefühle, letztlich in de Sadesche Zustände führen -, sondern an das
anpassen, was Freud das Realitätsprinzip nennt. Da die Herrschaftsordnung aber
widersprüchlich ist, ist auch die Anpassung an diese in der Psyche eine
Verinnerlichung der Widersprüche. Die bestehende Psychologie will also die
Krankheit heilen, indem sie den Patienten dazu drängt, die Ursachen der
Krankheit zu akzeptieren. Ein Modell dafür ist der Umgang mit den menschlichen
Aggressionen.
Der
Mythos vom Aggressionstrieb
In der arbeitsteiligen Welt ist jeder auf seinem Gebiet ein Fachmann, da
kennt er sich aus, wenn es aber ums Ganze geht, das Universum alles dessen, was
heute direkt erfahrbar ist oder mittelbar uns durch Medien aus aller Welt
geliefert wird, versagt regelmäßig das Denken der meisten.
So ist ein Mann, Landwirt oder Bäcker, in seinem Beruf tüchtig, ein nützliches
Mitglied der Gesellschaft, der auch seine staatsbürgerlichen Pflichten erfüllt
– und plötzlich findet er sich in den Schützengräben vor Verdun wieder (wie
mein Großvater) und soll als Menschenmaterial einer Kriegsmaschinerie
krepieren. Ein Bewusstsein vom Ganzen hätte ihn vielleicht davor bewahrt. Aber
Philosophie ist selbst an den Schulen bestenfalls etwas für Liebhaber; und was
gelehrt wird, ist auch nicht dazu geeignet, das Ganze zu verstehen. Deshalb
bastelt sich fast jeder seine private Weltanschauung zusammen. Darin ist schon
der Titel falsch, als könne man die Welt anschauen. Aber die Menschen wollen
Erklärungen für ihr Dasein als Ganzes und die Sinnsucher aller Couleur machen
ihre Angebote. Der denkende Mensch wendet sich den scheinbar auf Tatsachen
beruhenden Angeboten zu – und schon sitzt er der Ideologie auf. Ideologie als
falsches Bewusstsein zur Herrschaftssicherung ist nicht einfach eine
Manipulation von Hirnen, sondern die gesellschaftliche Wirklichkeit selbst drängt
ein falsches Bewusstsein auf, weil sie eine falsche Wirklichkeit ist. Eine
solche Ideologie ist die These vom Aggressionstrieb.
Diese These von Sigmund Freud wurde nach dem 2. Weltkrieg begierig
aufgegriffen, weil sie nicht nur den kapitalistischen Konkurrenzkampf als
natürlichen rechtfertigt, sondern auch von den wahren Gründen der beiden großen
Kriege des 20. Jahrhunderts ablenkt.
Dass der Mensch gelegentlich aggressiv sein kann, ist nicht strittig, er
hat die Anlage dazu, dass er aber einen Trieb in sich hat, der sich notwendig in
Aggressionen äußern muss – das behauptet die Aggressionsthese – ist
falsch. Sie wird von Freud so begründet:
„Das gern verleugnete Stück
Wirklichkeit hinter alledem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges
Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag,
sondern daß er zu seinen Tiebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von
Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher
Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm
zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne
seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu
setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, ihm zu martern und zu töten.
Homo homini lupus; wer hat
nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu
bestreiten? Diese grausame Aggression wartet in der Regel eine Provokation ab
oder stellt sich in den Dienst einer anderen Absicht, deren Ziel auch mit
mildernden Mitteln zu erreichen wäre. Unter ihr günstigen Umständen, wenn die
seelischen Gegenkräfte, die sie sonst hemmen, weggefallen sind, äußert sie
sich auch spontan, enthüllt den Menschen als wilde Bestie, der die Schonung der
eigenen Art fremd ist. Wer die Greuel der Völkerwanderung, der Einbrüche der
Hunnen, der sogenannten Mongolen unter Dschengis Khan und Timurlenk, der
Eroberung Jerusalems durch die frommen Kreuzfahrer, ja selbst noch die Schrecken
des letzten Weltkrieges in seine Erinnerung ruft, wird sich vor der Tatsächlichkeit
dieser Auffassung demütig beugen müssen.“ (Freud: Unbehagen, S. 102)
Freud begründet seine Ansicht von der Aggression nicht nur mit seiner
therapeutischen Erfahrung, vor allem frustrierte Frauen aus der Oberklasse Wiens
stellen seinen empirischen Ausgangspunkt dar, sondern auch mit historischen
Beispielen von Brutalitäten, die er aus der Geschichte selektiert, ohne sie im
Einzelnen zu analysieren, ohne ihre sozialen und ökonomischen Bedingungen auch
nur anzudeuten (von den psychologischen Tatsachen gibt es meist überhaupt keine
Belege). Nur durch diese gewaltsame Abstraktion kann er seine Aggressionsthese
als überhistorische aufrecht erhalten.
Der Aggressionsthese könnte man entgegenhalten, dass Soldaten vor der
Schlacht nicht aggressiv sind, sondern Angst haben, dass sie zu Weihnachten 1914
zwischen den Fronten lieber mit dem Feind Fußball spielten und feierten, als
aufeinander zu schießen. Es bedarf anscheinend großer Anstrengung, aus
harmlosen Durchschnittsmenschen aggressive Soldaten zu machen. Solche partiellen
Gegengründe bringen aber nicht weiter, sondern sind bestenfalls Indizien gegen
die Aggressionsthese. Das entscheidende Argument habe ich bereits bei der Kritik
der modernen Anthropologie vorgebracht: Man verallgemeinert falsch von gegenwärtigen
beobachtbaren Zuständen auf eine angebliche Natur des Menschen, hier seine
Triebneigung, die von der Steinzeit bis heute den Menschen in seinen Wesen
ausmachen soll.
Auch biologisch lässt sich ein angeblicher Aggressionstrieb nicht
nachweisen. Ich bin kein Biologe, aber soweit diese Wissenschaft seriös ist und
sich nicht als Ideologieproduzent profiliert, wie es zur Zeit Teile der
Hirnforschung machen, müsste sie die Frage beantworten, ob es ein biologisches
Substrat für einen Aggressionstrieb gibt oder nicht. Eduard Naegli schreibt darüber:
„Ein Trieb ist seinem Wesen nach, also schon rein begrifflich, auf ein
spezifisches Objekt gerichtet, wie das etwa beim Sexual-, Nahrungs- und
Machttrieb der Fall ist. Für die Aggression trifft dies nicht zu. Das Objekt
ist denkbar variabel, was gerade auch in kriminologischer Hinsicht bedeutsam
ist. Aggression ist eine Verhaltensweise, die sich je nach Situation und Ursache
gegen irgendwelche Objekte, zum Beispiel gegen völlig Unschuldige, ja gegen den
Aggressionsträger selber richten kann. Man spricht deshalb auch von der Möglichkeit
frei flottierender Aggression, die sich beliebig manipulieren läßt. Da die
Triebe spezifisch objektgerichtet sind, haben sie auch ihren spezifischen Grund
(Nahrungstrieb = Hunger und Durst). Die Gründe für aggressives Verhalten sind
demgegenüber äußerst vielfältig und zudem meistens sehr komplexer Art. (...)
Andererseits haben all die aggressiven Handlungsweisen in der Art, wie sie sich
manifestieren (z.B. in Gewaltanwendung oder mit dem Ausdruck von
Feindseligkeit), etwas Übereinstimmendes, und dieses Übereinstimmende wird fälschlicherweise
als einheitlicher Grundtrieb aufgefaßt, was eine die Wirklichkeit völlig
verschleiernde Simplifikation bedeutet.“ (in Plack: Mythos, S. 168)
Die Aggressionsthese (bei Lorenz das „sogenannte Böse“) ist schon
rein logisch nicht haltbar. Die logischen Fehler, die dieser These zu Grunde
liegen sind:
-
Anekdotenhafte Beispiele, vielleicht noch aus
der Tierwelt, werden als Begründung angeführt.
-
Die Argumentation ist widersprüchlich, z.B.,
dass es mehrere Ursachen gebe, aber nur einen Trieb.
-
Komplexe Vorgänge werden auf eine
eindimensionale These reduziert.
-
Das empirische Beobachtungsmaterial wird unzulässig
verallgemeinert.
-
Speziell wird das empirisch untersuchte Material
aus der Gegenwart unbegründet auf das überhistorische Wesen des Menschen als
seine Triebstruktur verallgemeinert.
-
Vor allem aber wird die beobachtbare Aggression
als Symptom der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft zur Ursache der
Aggression umgedeutet.
Gibt es aber keinen
„Aggressionstrieb“, dann stellt sich die Frage, warum gerade diese These vom
Aggressionstrieb so populär wurde und immer noch ist. Die Kriege, die oben von
Freud erwähnt wurden, und vor allem der 2. Weltkrieg mit seinen unvorstellbaren
Verbrechen, lassen sich scheinbar als Ausfluss menschlicher Aggressivität erklären.
Man brauchte nicht mehr nach den wirklichen Ursachen suchen wie dem Streben
nationaler Kapitale nach Weltmacht oder den besonderen deutschen Verhältnissen
einer verspäteten Industrienation, die nur durch einen Klassenkompromiss
zwischen Bürgertum und militaristischen Adel zu haben war. Vor allem aber lässt
sich durch die Biologisierung sozialer Ursachen die Tatsache verdrängen,
dass die kapitalistische Ökonomie selbst permanent Kriege in sich birgt, eine
Erkenntnis, die Karriere schädigend werden kann. Das nützt nicht nur den Vermögenden
und Kriegstreibern, sondern auch den Mitläufern, die mit einer griffigen
Formel, der Aggressionstrieb sei verantwortlich, Kriege seien ein Ausfluss
unserer Natur, ihre eigene Schuld verdrängen und rationalisieren können.
Auch heute im friedlichen
Konkurrenzkampf leiste der „Aggressionstrieb“ gute ideologische Dienste.
Arno Plack schriebt dazu: „Da Aggressivität als naturgegeben und (darum) als
unvermeidlich gilt, darf jeder, der auf eine 'sublimierte', sozial angepasste
Weise aggressiv ist, das beruhigende Empfinden entwickeln, im harten
Konkurrieren nicht gegen den Geist der Gemeinschaft zu verstoßen.“ (Mythos,
S. 205) Die Aggressionsthese wird
zur Legitimation kapitalistischer Verhaltensweisen, zur Ideologie par
excellence. Sie ist notwendig falsches Bewusstsein zur ideellen
Sicherung der Herrschaft des Kapitals. Notwendig, denn die empirische Erfahrung
drängt dem Bewusstsein das Vorhandensein von Aggression auf. Bewusstsein, denn
sie ist ja wirklich feststellbar, man kann sie in jeder Nachrichtensendung
erfahren. Falsch ist dieses Bewusstsein, weil es ein Symptom der gegenwärtigen
Gesellschaft zur natürlichen Ursache des Gewordenen verdreht.
Herrschaftssicherung: Diese Verdrehung lässt das entstandene Wirtschaftssystem
als Natürliches erscheinen und verklärt es dadurch; wer sich diesem anpasse
und unterordne, folge nur seinem natürlichen Trieb.
Wenn so eine falsche These dann auch noch dazu dient, vermeintlich harmlos
Formen der Aggression als Ausfluss des Triebes zu propagieren, wird die
Aggression erst richtig eingeübt, gelegentlich aggressive Verhaltensweisen künstlich
verstärkt. „Die Empfehlung, Aggressivität auf eine harmlose, sozial unschädliche
Weise 'abzureagieren', etwa durch Kampfsport, beruflichen Konkurrenzkampf oder
politischen Kampf, nimmt den frustrierten Menschen in den vitalen Motiven seiner
aggressiven Gereiztheit nicht ernst. (...) Die Aufforderung, aggressive
Neigungen auf harmlose Weise abzureagieren, übersieht auch die Gefahr, daß
jede Äußerung oder auch 'Abreaktion' von aggressivem Triebdruck – bei
momentaner affektiver Entlastung – den nervösen und hormonalen Mechanismus
aggressiven Verhaltens gleichsam ölt, derart, daß neuerlicher Triebstau, aus
motorischer oder sexueller Frustration sich bildend, um so leichter aggressiv
sich organisiert und abführt. Die zentralnervösen Bahnen aggressiven
Verhaltens werden eingeschliffen.“ (Plack: Mythos, S. 204 f.)
Die Psychologie, die derartige Empfehlungen ausspricht, wird selbst zu
der Krankheit, die sie bekämpfen will.
Wenn nun die Bedingungen entscheidend sind, unter denen jemand lebt, ob er
aggressiv ist oder nicht, dann wäre eine Gesellschaftsordnung denkbar, die
Aggression weitgehend ausschließt, also ein friedliches Zusammenleben ermöglicht.
Dies können aber die bürgerlichen Psychologen nicht akzeptieren, es
widerspricht ihrem falschen Weltbild. So antwortet Freud auf den Hinweis auf
solche Bedingungen: „(...) ich kann nicht untersuchen, ob die Abschaffung des
privaten Eigentums zweckdienlich und vorteilhaft ist. Aber seine psychologische
Voraussetzung vermag ich als haltlose Illusion zu erkennen. Mit de Aufhebung des
Privateigentum entzieht man der menschlichen Aggressionslust eines ihrer
Werkzeuge, gewiß ein starkes, und gewiß nicht das stärkste. An den
Unterschieden von Macht und Einfluß, welche die Aggression für ihre Absichten
mißbraucht, daran hat man nichts geändert, auch an ihrem Wesen nicht. Sie ist
nicht durch das Eigentum geschaffen worden, herrschte fast uneingeschränkt in
Urzeiten (woher weiß er das?), als das Eigentum noch sehr armselig war, zeigt
sich bereits in der Kinderstube, kaum daß das Eigentum seine anale Urform
aufgegeben hat, bildet den Bodensatz aller zärtlichen und Liebesbeziehungen
unter den Menschen, vielleicht mit alleiniger Ausnahme der einer Mutter zu ihrem
männlichen Kind. Räumt man das persönliche Anrecht auf dingliche Güter weg,
so bleibt noch das Vorrecht aus sexuellen Beziehungen, das die Quelle der stärksten
Mißgunst und der heftigsten Feindseligkeit unter den sonst gleichgestellten
Menschen werden muß. Hebt man auch dieses auf durch die völlige Befreiung des
Sexuallebens, beseitigt also die Familie, die Keimzelle der Kultur, so läßt
sich zwar nicht vorhersehen, welche neuen Wege die Kulturentwicklung einschlagen
kann; aber eines darf man erwarten, daß der unzerstörbare Zug der menschlichen
Natur ihr auch dorthin folgen wird.“ (Freud: Unbehagen, S. 103 f.)
War Freud in Bezug auf seine Wissenschaft vorsichtig und sprach von
„deuten“, so redet er plötzlich, wenn es um die ideologischen Vorurteile
seiner Zeit und Klasse geht, in einer apodiktischen Sprache. Die
Aggressionsthese scheint weniger den unzerstörbarer Zug der menschlichen Natur
darzustellen, als eine Blockade von Freuds Denkens zu sein. Trotz der Schranken
von Freud hat eine auf seiner Forschung aufbauende kritische Theorie
Erkenntnisse zutage befördert, die der kennen muss, der seine Triebe und seine
Sinne nicht allein den brutalisierenden sozialen Verhältnissen aussetzen will,
sondern zumindest ein provisorisches Glück anstrebt, das nur im Kampf gegen
eine gesellschaftliche Ordnung liegen kann, die die Repression der Triebe
notwendig macht. Jedes Streben nach Glück auf der Basis der regressiv
organisierten Triebe wäre eine Illusion, als könnte man die sozial bedingte
Entfremdung in einem ignorieren. Erst die Kritik der herrschenden Triebstruktur,
die auch in einem ist, mit dem Ziel sie aufzuheben, erlaubt zumindest
provisorisches Glück. Das jedoch setzt die Kenntnis dieser Triebstruktur
voraus.
Die
Triebstruktur des heutigen Menschen
Wenn der Mensch anthropologisch nicht festgelegt ist, wenn er offen ist
in seiner Entwicklung und wenn die gegenwärtige soziale Triebstruktur
historisch entstanden ist, dann muss man diese analysieren und die Kräfte
bestimmen, die sie formen, um mit seiner Lust und allgemein seinen Gefühlen
umgehen zu können. Unter der gegenwärtigen sozialen Triebstruktur verstehe ich
die vorherrschenden Charaktereigenschaften der heutigen Menschen, die
durchschnittliche Art ihrer Triebbefriedigung oder Triebunterdrückung und ihre
vorherrschenden Bedürfnisse. Triebe sind demnach ein teils bewusster, teils
unbewusster dauerhafter biologischer Drang in uns, eine permanente Geneigtheit,
vorzüglich als Sexual- und Nahrungstrieb. Bedürfnisse sind zu Bewusstsein
gelangte Äußerungen des Triebes, evtl. seine kulturelle und zivilisatorische
Formung. Werden diese mit dem Gesamtgesellschaftlichen vermittelt, dann werden
aus Bedürfnissen Interessen.
Was der einzelne Mensch heute vom Charakter her
ist, bestimmt er nur in geringem
Grade selbst, er wird durch seine Umwelt geformt. Diese aber ist Resultat einer
Ökonomie, welche die Erdoberfläche in den letzten 200 Jahren völlig
umgestaltet hat. Oberster Zweck der kapitalistischen Ökonomie ist nicht einfach
der Mehrwert (oder seine Erscheinung als Profit), sondern die Produktion von
akkumulierbaren Mehrwert: die Wiederanlage des Profits mit verbesserter
Produktivität, ökonomisch die Anhäufung von Reichtum, moralisch die
Produktion um der Produktion willen (nicht um der Bedürfnisse willen). Dieser
oberste Zweck ist nicht in die Willkür der einzelnen Kapitaleigner gestellt,
sondern ökonomisch erzwungen bei Strafe des Ruins und des Verlustes am
Eigentum. Seit das Kapital nicht nur formell sich die Produktion der
Gesellschaft unterwirft, sondern eine reelle Subsumtion der Produktion unter das
Kapital stattfindet, also die Produktion selbst bereits Warenproduktion unter
der Regie des Kapitals ist, versucht es auch alle Bereiche der Gesellschaft sich
zu unterwerfen.
So z.B. wurde die Schulzeit permanent
ausgeweitet, was einerseits so etwas wie Kindheit für alle erst ermöglichte,
andererseits versucht das Kapital und seine Bildungspolitiker diese Schonzeit so
zu gestalten, dass sie seinen Verwertungsbedürfnissen entspricht, also diese
„Schonzeit“ zu effektivieren, zu rationalisieren und als gegenwärtigen
Trend selbst in ein Geschäft zu verwandeln. Da der Zweck der Schule, neben
allen idealistischen Bildungsgerede, vor allem die allgemeine Qualifikation der
Arbeitskraft ist, wird hier der Charaktertyp der kapitalistischen
Industriegesellschaft vorgeprägt. Individuelles Karrierestreben (Zensuren)
ebenso wie Teamgeist, Fleiß und Sparsamkeit als protestantische Tugenden ebenso
wie Konsumverhalten und Verschwendung des Veralteten werden eingeübt. Sind die
Eltern der Kinder selbst bereits seit Generationen durch dieses Erziehungssystem
gegangen, dann werden bereits die Kleinkinder nach den vorherrschenden
„Werten“ kapitalistischer Sozialisation erzogen.
Diese Primär- und Sekundärsozialisation wird
überformt, gewandelt, modernisiert und deformiert durch die Konsumgüterindustrie,
von der die Menschen seit der Industrialisierung abhängen. Indem die Kaufkraft
der Lohnabhängigen längere Zeit gewachsen ist, neue Konsumgüter zum Erhalt
der Arbeitskraft notwendig wurden (z.B. Autos), ihre Freizeit sich verlängert
hat und neue Bedürfnisse für den „Freizeit“-Konsum geschaffen wurden, hat
sich auch das Kapital der Konsumindustrie ausgeweitet. Wie in jeder derartigen
Produktion neigt es zur Überkapitalisierung und Überproduktion. Das Kapital
hat deshalb das Bestreben, soweit dies marktwirtschaftlich möglich ist, neue
Bedürfnisse der Konsumenten hervorzurufen, die bestehenden Bedürfnisse zu
lenken und auf ihre neuesten Produkte hin zu modifizieren. Altes und Bewährtes
muss entwertet werden, um Platz für neue Produkte zu schaffen. Die
Konsumindustrie kann ihre Strategien nur durchsetzen, indem sie die Gefühle und
das Bewusstsein der Menschen mit Sozialtechniken beherrscht, die Bedürfnisse
stimuliert und das Leben und die Umwelt ästhetisiert. Sie verkauft deshalb
nicht nur einfach Waren, sondern damit verbunden ganze Weltbilder und
Sinnzusammenhänge, die das Ganze des Lebens in ihrem Sinne widerspiegeln.
Die Konsumindustrie erzeugt dadurch zwar ein überschießendes
Bedürfnispotenzial, das immer mehr will, als es hat, zugleich entfremdet sie
auch das Bewusstsein der Menschen von dem Bewusstsein der Entfremdung. Man hat
diesen Vorgang als „Imperialismus nach innen“ oder als „Kolonisierung des
Bewusstseins“ bezeichnet. Da dieser Trend aber immer auch widersprüchlich
ist, haben wir keine „Brave new world“, sondern auch der Dümmste merkt
irgendwann, das dieser Schein der Warenwelt, insofern er nur Surrogate oder bloße
Versprechen liefert, ohne Substanz ist. Auf jeden Fall ist es dem Kapital
gelungen auch den Freizeitbereich der Menschen mit samt ihrer Triebstruktur
reell unter das Kapital zu subsumieren. Thomas Ziehe, dem ich hier weitgehend
gefolgt bin, schreibt dazu 1978:
„Die Expansion der Konsumgüterproduktion
bedeutet innerhalb der Entwicklungsgeschichte des Kapitals eine weitere Stufe
der Vergesellschaftung: Nämlich der Vergesellschaftung von Bedürfnismustern
und Phantasieelementen, die bisher eher außerhalb des Strategiehorizonts
kapitalistischer Planung und Steuerung lagen. Es werden auf dieser
Vergesellschaftungsstufe auch Bereiche, die neben der eigentlichen
Warenproduktion existieren, einem permanenten Transformationsprozeß
unterworfen, um Bedürfnisse und Phantasien der Subjekte jeweils so organisieren
zu können, daß sie sich mit der Quantität und spezifischen Form des
Warenangebots möglichst weitgehend decken.“ (Ziehe: Pubertät, S. 80)
Wenn in der Gegenwart die Lohnkosten aber gesenkt
werden, weil die automatisierte Produktion immer weniger Menschen benötigt,
also die Gewerkschaften an Macht verlieren, da genügend „Ersatzmänner“ zur
Verfügung stehen, ein Trend, der sich in den nächsten Jahrzehnten fortsetzen
wird, dann wird die Akzeptanz dieses Wirtschaftssystems zwar sinken, aber ob die
Gegenkräfte ein mögliches Protestpotenzial organisieren können, ist fraglich,
solange die Menschen bis in ihr Unbewusstes mit dieser Produktionsweise
verbunden sind.
Im Extremfall werden wir zur perfekt integrierten Charaktermaske des
Kapitals. „Denn die perfekt integrierte 'ökonomische Charaktermaske' kommt
kaum mehr dazu, überhaupt eigene Bedürfnisse und Wünsche zu entwickeln, an
deren Unerfülltheit bzw. Versagen (eine gewisse Kaufkraft einmal vorausgesetzt)
sie 'leiden' könnte. Sie wünscht tendenziell nur noch, was sie kaufen kann
bzw. woran das Kapital verdient. Da ihre 'eigenen', authentischen Wünsche
bis zur Unkenntlichkeit entstellt sind, wird deren Versagung auch nicht mehr als
Leidensdruck empfunden. Litt der klassische Neurotiker (bzw. Psychotiker) noch
an der Unerfüllbarkeit seiner 'Kinderwünsche', so hat das Kapital ihn von
diesem Leiden scheinbar 'erlöst', indem es ihm das klischierte und
standardisierte Abziehbild seiner 'Kinderwünsche' nun in käuflicher Form immer
und überall präsentiert. Die warenästhetische Indienstnahme der 'Kinderwünsche'
und ihre scheinhafte Erfüllung im Medium des Kaufens, verringert
so die ehemals neurotisierende (bzw. psychotisierende) Spannung zwischen
Wunsch und versagender Wirklichkeit.“ (Schneider, zitiert nach Ziehe, a.a.O.,
S. 197 f.) Als Hampelmann der
Warenwelt ist das Versprechen nach Wollust für alle, mit dem die bürgerliche
Philosophie bei La Mettrie anfing, unter dem Schein seiner Befriedigung ad
absurdum geführt.
Hoffnung auf volles sinnliches Glück gibt es nur, weil die Menschen
niemals vollständig manipulierbar sind. Wenn die Warenästhetik der
Konsumindustrie, wozu auch die Bewusstseinsindustrie gehört, die Bedürfnisse
der Menschen vorformt und entfremdet, sind diese Bedürfnisse und Wünsche ja
noch vorhanden. Eine schöne Frau im Bikini an der Litfaßsäule erregt bei Männern
zwar sexuelle Wünsche, die sich auf das beworbene Produkt konzentrieren sollen,
dadurch ist aber der sexuelle Wunsch noch nicht befriedigt.
„Daß sich aber dieses permanent genährte Bedürfnis auf Dauer an die
Waren binden müßte, ist noch nicht ausgemacht. Vielmehr spricht ebensoviel dafür,
daß die ständige warenästhetische Nutzung die Phantasiewerte verschleißt.
Wenn nämlich die warenästhetisch funktionalisierten Symbole einem ständig
beschleunigten Wechsel- und Umstilisierungsprozeß unterworfen werden, dem der
Erfahrungsrhythmus der Subkultur gar nicht mehr nachkommen kann, so ist es
wahrscheinlich, daß bezüglich des Rezeptionswillens der Subjekte eine
Abstumpfung und Immunisierung gegen die warengebundenen Phantasieversprechen
hervorgerufen wird.“ (Ziehe: Pubertät, S. 198)
Lösen kann man sich von der Scheinbefriedigung letztlich nur dadurch,
dass man diesen Zusammenhang von wahren Bedürfnissen und Schein reflektiert –
was der Leser mit dem Autor gerade ansatzweise getan hat. Dazu muss man aber
auch die Kulturindustrie reflektieren, um die Manipulationen des Denkens und Fühlens
durch diese einigermaßen zu verstehen.
Kulturindustrie
und die Manipulation von Vernunft und Gefühl
Neben der Konsumindustrie, über ihr und mit ihr verschwistert hat sich
eine Kulturindustrie etabliert, die das Herz und Hirn ihrer Opfer derart in
Beschlag nimmt, dass sich der Mensch nur schwer ihr entziehen kann. Horkheimer
und Adorno haben in ihrem Kapitel „Kulturindustrie“ aus der „Dialektik der
Aufklärung“ u.a. am Beispiel des Amüsements
dargestellt, wie tief die Charakterstruktur von der kapitalistischen
Kulturindustrie geprägt wird.
„Amusement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus. Es
wird von dem gesucht, der dem mechanisierten Arbeitsprozeß ausweichen will, um
ihm von neuem gewachsen zu sein. Zugleich aber hat die Mechanisierung solche
Macht über den Freizeitler und sein Glück, sie bestimmt so gründlich die
Fabrikation der Amüsierwaren, daß er nichts anderes mehr erfahren kann als die
Nachbilder des Arbeitsvorgangs selbst. Der vorgebliche Inhalt ist bloß verblaßter
Vordergrund; was sich einprägt, ist die automatisierte Abfolge genormter
Verrichtungen. Dem Arbeitsvorgang in Fabrik und Büro ist auszuweichen nur in
der Angleichung an ihn in der Muße. Daran krankt unheilbar alles Amusement. Das
Vergnügen erstarrt zur Langeweile, weil es, um Vergnügen zu bleiben, nicht
wieder Anstrengung kosten soll und daher streng in den ausgefahrenen
Assoziationsgeleisen sich bewegt. Der Zuschauer soll keiner eigenen Gedanken bedürfen:
das Produkt zeichnet jede Reaktion vor: nicht durch seinen sachlichen
Zusammenhang – dieser zerfällt, soweit er Denken beansprucht -, sondern durch
Signale. Jede logische Verbindung, die geistigen Atem voraussetzt, wird peinlich
vermieden.“ (Horkheimer/Adorno: Aufklärung, S. 123)
Aber auch die es anspruchsvoller haben wollen, werden bedient, die
Kulturindustrie, die heute eher eine Bewusstseinsindustrie ist, macht ein System
aus, das jede Art von Gefühl bedient und dadurch prägt. Sie schlägt alles mit
Ähnlichkeit. So ist die beliebte Starwars-Serie nichts anderes als die
Fortsetzung des Konkurrenzkampfes und des Krieges der Gegenwart in der Zukunft.
Schon Walter Benjamin stellte fest, dass dem Bürgertum bereits bei Jules Verne
die soziale Fantasie ausgeht und Utopien nur noch technische sind. „Von
Interessenten wird die Kulturindustrie gern technologisch erklärt. Die
Teilnahme der Millionen an ihr erzwinge Reproduktionsverfahren, die es wiederum
unabwendbar machten, daß an zahllosen Stellen gleiche Bedürfnisse mit
Standardgütern beliefert werden. (...) Die Standards seien ursprünglich aus
den Bedürfnissen der Konsumenten hervorgegangen: daher würden sie so
widerstandslos akzeptiert. In der Tat ist es der Zirkel von Manipulation und rückwirkendem
Bedürfnis, in dem die Einheit des Systems immer dichter zusammenschießt.
Verschwiegen wird dabei, daß der Boden, auf dem die Technik Macht über die
Gesellschaft gewinnt, die Macht der ökonomisch Stärksten über die
Gesellschaft ist.“ (Horkheimer/Adorno: Aufklärung, S. 109)
Auch wenn es nicht die Technik selbst ist, die Macht hat, sondern die Vermögenden
mit ihren Interessen, welche die Inhalte bestimmen, die mithilfe der Technik
vermittelt werden, so sagt doch der Zirkel, der zur Rechtfertigung herangezogen
wird, viel über die versteinerte Triebstruktur aus. Die anerzogene Bedürfnisweise,
die durch Herrschaft geprägt sind, werden durch die Kulturindustrie verfestigt,
und diese verfestigten Bedürfnisweise wieder als Grund für die Produktionen
ausgegeben. Dieser Regression der Gefühlswelt der großen Mehrheit
entspricht die geistige Anpassung an den Mainstream. Was Horkheimer 1935
beobachtete, kann heute jeder in seiner Umgebung verifizieren. „Der
menschliche Typus, der dem gegenwärtigen Zustand entspricht, erkennt alles an,
was im Dienste der Macht steht. Die großen Züge dessen, was jetzt geschieht
und gilt, sind ihm die Norm der Welt. Als kleiner Aristoteles sieht heute jeder
Durchschnittsmensch umso mehr Vollkommenheit bei einer Sache, je mehr sie
wirklich ist; als kleiner Schiller hält er die Weltgeschichte für das
Weltgericht.“ (Horkheimer: Anthropologie, S, 17)
Selbst die Intellektuellen, die am ehesten fähig wären, für ein
kritisches Gegenwartsbewusstsein zu sorgen, passen sich in ihrer Mehrzahl ihren
Brotgebern an. Wenn aber selbst die Intellektuellen der jeweiligen Tendenz der
kapitalistischen Produktionsweise folgen, dann hat Vernunft, soweit sie auf
ihrem avancierten Stand sein will, kaum noch Bedeutung in der Gesellschaft, denn
die Macht der Vernunft kann immer nur die Macht der Vernünftigen sein (Brecht).
Auch wie die reduzierte Vernunft des durchschnittlichen Intellektuellen
aussieht, hat Horkheimer beschrieben:
„Gerechtigkeit, Gleichheit, Glück, Toleranz, alle diese Begriffe, die
... in den vorhergehenden Jahrhunderten der Vernunft innewohnen oder von ihr
sanktioniert sein sollen, haben ihre geistigen Wurzeln verloren. Sie sind noch
Ziele und Zwecke, aber es gibt keine rationale Instanz, die befugt wäre, ihnen
einen Wert zuzusprechen und sie mit einer objektiven Realität
zusammenzubringen. Approbiert durch verehrungswürdige historische Dokumente, mögen
sie sich noch eines gewissen Prestiges erfreuen, und einige sind im Grundgesetz
der größten Länder enthalten. Nichtsdestoweniger ermangeln sie der Bestätigung
durch die Vernunft in ihrem modernen Sinne. Wer kann sagen, daß irgendeines
dieser Ideale enger auf Wahrheit bezogen ist als sein Gegenteil? Nach der
Philosophie des durchschnittlichen modernen Intellektuellen gibt es nur eine
Autorität, nämlich die Wissenschaft, begriffen als Klassifikation von
Tatsachen und Berechnung von Wahrscheinlichkeiten. Die Feststellung, daß
Gerechtigkeit und Freiheit an sich besser sind als Ungerechtigkeit und Unterdrückung,
ist wissenschaftlich nicht verifizierbar und nutzlos. An sich klingt sie
mittlerweile gerade so sinnlos wie die Feststellung, Rot sei schöner als Blau
oder ein Ei besser als Milch.“ (zitiert nach Weizenbaum: Computer, S. 330)
Gegen diese Eindimensionalität der modernen Sicht auf den Menschen, seine
Vernunft und seine Gefühle, könnte man einwenden, dass diese Darstellung des
herrschenden Geistes und der Triebstruktur nur eine dominierende Tendenz ist,
der man sich auch zeitweise oder partiell entziehen kann, dass man, obwohl man
in der Arbeitswelt funktionieren muss, um leben zu können, sich nicht auch noch
gedanklich anpassen braucht, sondern sich zumindest ein kritisches Bewusstsein
erarbeiten und bewahren kann, dass die Widersprüche des Bestehenden dazu
zwingen, Distanz ihm gegenüber zu
entwickeln. Faktisch gelingt dies aber immer nur einzelnen. Wenn man bedenkt,
dass ein Hinaufarbeiten auf den avancierten Stand der Vernunft ein ganzes
Universitätsstudium verlangt – und man muss noch Glück haben, einen
kritischen Philosophen als Lehrer zu finden -, dann sind in diesem Sinn kritisch
Denkende eine verschwindende Minderheit. Andererseits enthält die
kapitalistische Gesellschaft gravierende Widersprüche, die sich auch in
sozialen Katastrophen äußern, die zur spontanen Kritik an den
gesellschaftlichen Verhältnissen drängen. Diese spontane Kritik an der
kapitalistischen Gesellschaft ist aber oft nicht auf den avancierten Stand der
Vernunft, obwohl in Büchern, Zeitschriften und heute auch im Internet zumindest
Aspekte der entwickelten Vernunft abrufbar sind. Dieses kritische
Vernunftpotenzial ertrinkt aber für den ungeschulten Kopf in einer Flut von
formalistischen bis reaktionären Varianten der Vernunft.
Eine Möglichkeit, vernünftige Reflexion zu initiieren, besteht darin,
eingebürgerte und durch die Warenästhetik ausgebeutete Gefühlswünsche mit
ihren Realisierungschancen zu konfrontieren. Dies lässt sich am Beispiel der
romantischen Liebe demonstrieren.
Vorherrschende
Triebstruktur und romantische Liebe
Die Menschen müssen heute in der kapitalistischen Marktwirtschaft, um
leben zu können, sowohl Konkurrenten der anderen Menschen sein wie sie zugleich
mit ihnen kooperieren sollen. Sie sind Konkurrenten etwa um Arbeitsplätze, gute
Schulnoten und Aufstiegschancen, zugleich sollen sie Teamgeist haben, technisch
reibungslos mit anderen zusammen arbeiten und das Betriebsklima nicht durch
„unfaire“ Mittel wie Mobbing stören. Diese Situation verlangt eine
bestimmte Triebstruktur, die tatsächlich in den letzten 200 Jahren erzeugt
wurde und die sich nach dem Stand der Produktivkräfte und Produktionsverhältnissen
weiter entwickelt – wie oben gezeigt wurde. Erich Fromm beschreibt diese
Triebstruktur des heutigen Menschen in den westlichen Metropolen in Bezug auf
seine Liebesfähigkeit so:
„Der moderne Mensch ist sich selbst, seinen Mitmenschen und der Natur
entfremdet. (...) Er hat sich in eine Gebrauchsware verwandelt und erlebt seine
Lebenskräfte als Kapitalanlage, die ihm unter den jeweils gegebenen
Marktbedingungen den größtmöglichen Profit einzubringen hat. Die
menschlichen Beziehungen sind im wesentlichen die von entfremdeten Automaten.
Jeder glaubt sich dann in Sicherheit, wenn er möglichst dicht bei der Herde
bleibt und sich in seinem Denken, Fühlen und Handeln nicht von den anderen
unterscheidet. Während aber jeder versucht, den übrigen so nahe wie möglich
zu sein, bleibt er doch völlig allein und hat
ein tiefes Gefühl der Unsicherheit, Angst und Schuld, wie es immer dann
entsteht, wenn der Mensch sein Getrenntsein nicht zu überwinden vermag. Unsere
Zivilisation verfügt über viele Betäubungsmittel, die den Leuten helfen, sich
ihres Alleinseins nicht bewußt zu werden: Da ist vor allem die strenge Routine
der bürokratischen, mechanischen Arbeit, die verhindern hilft, daß sich die
Menschen ihres tiefsten Bedürfnisses, des Verlangens nach Transzendenz und
Einheit, bewußt werden. Da die Arbeitsroutine hierzu nicht ausreicht, überwindet
der Mensch seine unbewußte Verzweiflung durch die Routine des Vergnügens,
durch den passiven Konsum von Tönen und Bildern, wie ihm die Vergnügungsindustrie
bietet; außerdem durch die Befriedigung, ständig neue Dinge zu kaufen und
diese bald wieder gegen andere auszuwechseln.“ (Fromm: Lieben, S. 101)
Dieser Menschentyp wird unfähig wahre Liebe zu empfinden, wie sie von
den Dichtern seit dem Sturm und
Drang besungen wurde.
Als romantische Liebe gilt eine innige Beziehung
zweier Personen, die sich nicht nur auf
den Körper des anderen, seine Schönheit oder seine Arbeitskraft bezieht,
sondern auch den Charakter des Geliebten einbezieht, letztlich eine
Verschmelzung zweier Seelen sein soll. So stellt Goethe die Liebe in seiner
Erlebnislyrik dar, z.B. in „Willkommen und Abschied“:
Dich sah ich, und die milde
Freude
Floss von dem süßen Blick
auf mich;
Ganz war mein Herz an
deiner Seite
Und jeder Atemzug für
dich.
Ein rosenfarbnes Frühlingswetter
Umgab das liebliche
Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich
- ihr Götter!
Ich hofft' es, ich
verdient' es nicht!
Und wenn der Geliebte für immer von einem geht, dann
kann das die größte seelische Katastrophe sein, wie „Das verlassene Mägdlein“
von Mörike zeigt:
Träne auf Träne dann
Stürzet hernieder;
So kommt der Tag heran -
O ging' er wieder!
Doch zu dieser Art Liebe sind die meisten Menschen kaum fähig.
Bestenfalls im Verliebtsein scheint diese Liebe auf. Der Grad des Verliebtseins
ist jedoch meist nur der Grad vorhergehender Einsamkeit, der Geliebte nur ein
Idealbild, das man sich imaginiert, nicht der wirkliche Gegenüber. Ist das
Verliebtsein verflogen, lernt man den anderen besser kennen, dann hindert die
Triebstruktur in aller Regel zur reifen Liebe fortzuschreiten. Wie die Liebe
dann in der Ehe aussieht, beschreibt Fromm so:
„Wie nicht anders zu erwarten,
ist auch die Liebe vom Gesellschafts-Charakter des modernen Menschen geprägt.
Automaten können nicht lieben, sie tauschen ihre persönlichen Vorzüge aus und
hoffen auf ein faires Geschäft. Einer der signifikantesten Ausdrücke im
Zusammenhang mit Liebe und besonders im Zusammenhang mit einer solchermaßen
entfremdeten Ehe ist die Idee des 'Teams'. In zahllosen Artikeln über die glückliche
Ehe wird deren Idealform als ein reibungslos funktionierendes Team beschrieben.
Diese Beschreibung unterscheidet sich kaum von der eines reibungslos
funktionierenden Angestellten, der 'ziemlich unabhängig', zur Zusammenarbeit
bereit, tolerant und gleichzeitig ehrgeizig und aggressiv sein sollte.
Dementsprechend soll der Ehemann, wie die Eheberater uns mitteilen, seine Frau
'verstehen' und ihr eine Hilfe sein. Er soll ihr neues Kleid und ein
schmackhaftes Gericht, das sie ihm vorsetzt, loben. Sie ihrerseits soll Verständnis
dafür haben, wenn er müde und schlechtgelaunt heimkommt, sie soll ihm
aufmerksam zuhören, wenn er über seine beruflichen Schwierigkeiten redet, und
sich nicht ärgern, sondern es verständnisvoll aufnehmen, wenn er ihren
Geburtstag vergißt. Beziehungen dieser Art laufen alle auf die gut geölte
Beziehung zwischen zwei Menschen hinaus, die sich ihr ganzes Leben lang fremd
bleiben (...). Bei dieser Auffassung von Liebe und Ehe kommt es in erster Linie
darauf an, eine Zuflucht vor dem sonst unerträglichen Gefühl des Alleinseins
zu finden. In der 'Liebe' hat man endlich einen Hafen gefunden, der einen vor
der Einsamkeit schützt. Man schließt zu zweit einen Bund gegen die Welt und hält
dann diesen égoisme à deux irrtümlich für Liebe und Vertrautheit.“
(Fromm: Lieben, S. 102 f.)
Diese richtige Kritik an den Tendenzen, die gegen
unsere emotionalen Möglichkeiten sprechen, die wahres Glück in der Liebe meist
scheitern lassen, weil die antrainierte Triebstruktur des heutigen Menschen
liebesfeindlich ist, nimmt der Erich Fromm von „Die Kunst des Liebens“ aber
nicht ernst. Denn sein Buch will – wie der programmatische Titel bereits sagt
– die „ganze Persönlichkeit“ (S. 9) entwickeln durch seine Ratschläge,
damit sie zum Lieben fähig wird. Wenn seine Ratschläge, die Kunst des
Liebens zu lehren, Erfolg hätten, dann würde dieser Mensch ökonomisch
scheitern, weil seine Triebstruktur im Widerspruch zu den kapitalistischen
Erfordernissen steht. Passt er sich aber – wie es in der Regel geschieht –
den ökonomischen Erfordernissen mit seiner Triebstruktur an, dann wird er unfähig
zur romantischen Liebe. Doch auch die Wahl, sich in diesem Dilemma zu
entscheiden, hat der moderne Mensch kaum. Ihm wird von klein auf die
vorherrschende Triebstruktur eingeübt,
so dass er diese, nicht aber die romantische Liebe und die entwickelte Persönlichkeit
nach dem klassischen Menschenbild, als natürliche empfindet. Diese zweite Natur
(da anerzogen und zur Gewohnheit geronnen) ist so fest in ihm verwurzelt und
verfestigt, dass es allergrößte Anstrengung bedürfte, dies zu ändern, eine
Anstrengung zumal, die ihm in der kapitalistischen Gesellschaft Schwierigkeiten
und Nachteile einbringen würde.
Ein Jugendbuch über Sexualität, das sich erfrischend
von dem Aufklärungsmief der 50er Jahre abhebt, enthält eine Menge nützlicher
Tipps, will Vorurteile der Spießergesellschaft z.B. über das Onanieren abbauen
und reflektiert die sozialen Hindernisse freier Sexualität, enthält aber kaum
eine Reflexion über die Liebe. Sie wird in „Sexfront“ von Günter
Amendt nur beiläufig am Rande erwähnt. „Eine intensive Beziehung zweier
Menschen zueinander ist nicht einfach da, sie stellt sich erst im Laufe von Zeit
ein. Der Wunsch, jemanden, den man kennt, kennenzulernen, kann sich sehr bald
erschöpften, er kann sich mit jedem Mal steigern. Sympathie stellt sich ein,
auch Liebe. Der Weg der Annäherung kann aber ebenso schnell wieder abbiegen in
Entfremdung voneinander. Wenn das, was man als Auseinanderleben bezeichnet, von
beiden Betroffenen gleichermaßen empfunden wird, dann steht der Lösung einer
alten Beziehung und der Aufnahme neuer Beziehungen mit anderen nichts mehr im
Wege.“ (Amendt: Sexfront, S. 100) Liebe
kann das platte linke Gewissen anscheinend immer nur zugleich mit der baldigen
Trennung reflektieren, als ob nicht die Liebe – paradox - zeitlos ist, solange
sie besteht. Nicht so für den scheinaufgeklärten Manager seiner Gefühle.
Für moderne Menschen, auch wenn er mit revolutionärer Attitüde
daherkommt, ist Sexualität nichts anderes als Essen oder Trinken, man wechselt
den Liebespartner wie einen Sportverein oder ein Esslokal. Romantische Liebe
klingt da wie eine Illusion aus einem verschwundenen Zeitalter. Gewiss war die
Steigerung in das Liebesgefühl immer auch eine Folge patriarchalischer Unterdrückung,
aber sie war es nicht nur, sondern enthielt einen Überschuss menschlicher Möglichkeiten,
der in der Sachlichkeit der Sexplanung völlig verschwunden ist. Für Partys
schlägt Amendt folgende Checkliste vor, ob es lohnend ist hinzugehen.
„Party-Regeln:
- Gibt es was zu essen?
- Gibt es was zu trinken?
- Gibt es was zu ficken?
- Kann man jemanden anpumpen?
Gehe Punkt für Punkt durch. Erledige jeden Punkt. Mach
dir eine Strichliste. Hast du alle Punkte durch und nicht erreicht, was du
willst, dann verlaß die Party und geh zu einer anderen.“ (Amendt: Sexfront,
S. 114)
Hier wird bloß der bürgerliche Mief durch linke Technokratik abgelöst,
aber keine wirkliche Alternative verdeutlicht. Vielleicht kann der moderne
Mensch nicht anderes, aber er kann wissen, dass es mehr menschliche Möglichkeiten
gibt, als den bürgerlichen Egoismus.
Die
Triebstruktur der Befreiung
Wie wenig hoffnungsvoll die gegenwärtige Lage im Verhältnis von Gefühl
und Vernunft auch ist, dieser Essay soll nicht mit diesem
Wirklichkeits-Pessimismus enden, ohne eine Alternative angedeutet zu haben.
Bisher wurde von mir herausgearbeitet: Es gibt für den Menschen nichts
Schöneres als seine Gefühle. Aber Gefühle abstrakt betrachtet sind
ambivalent, sie tendieren zum Maßlosen, sodass sie ihre angestrebte Lust
verfehlen. Gefühle ohne Schranken und Regeln zerstören ihr Subjekt
(Masochismus) oder andere Menschen (Sadismus). In ungesicherten Zuständen, in
Kriegen und Bürgerkriegen können Gefühle eine sozialpsychologische Grundlage
sein für alle denkbaren Brutalitäten. Die ständige Unterdrückung der Gefühle
aber oder ihre Sublimierung zu geistigen Produkten auf Grund der vorherrschenden
Lohnarbeit deformiert das Gefühlsleben und die Triebstruktur. Durch das Unterdrücken
verlieren wir unendliche Glücksmöglichkeiten. Man kann ohne eine authentische
Befriedigung der Gefühle nur schlecht leben.
Die Gefühle bedürfen deshalb nicht nur einer moralischen Leitung durch
die Vernunft, sei es als sanfter Zwang durch das überzeugende Argument, sei es
durch die mit Gewalt verbundene Schranke vernünftigen Rechts, sie müssen durch
Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse aus ihrem repressiven Status
befreit werden. Die bestehende kapitalistische Gesellschaft lässt kein
befriedigendes Ausleben der Gefühle zu, sie regrediert das Gefühlsleben auf
das oberflächliche Amüsement, die Waren geleitete Fremdbestimmung und zerstört
die Liebesfähigkeit der Menschen. Dies individuell zu ändern, liegt kaum in
der Macht des Einzelnen.
Erst eine sozialistische Gesellschaft,
die nach dem avancierten Stand der Vernunft entwickelt und so für alle
durchsichtig wird, in der das Privatinteresse der Einzelnen mit dem
Allgemeininteresse der Gesellschaft nicht mehr im Widerspruch steht und in der
Wohlstand für alle Menschen besteht, erlaubt das Ausleben der Gefühle,
soweit sie durch Vernunft legitimiert sind. Erst hierher gehört das
Hegelwort, nach dem die Gefühle, wenn sie befriedigt werden, nicht mehr stören
oder nicht mehr zum inneren Feind werden, mit dem man ständig kämpfen muss.
Sozialismus wäre dann eine Gesellschaft, in der vernünftige Moral das mit
Gewalt verbundene Recht immer mehr ablöst und die Adiaphora sozialverträglich
ausgeweitet werden könnten (vgl. Gaßmann: Widerstand, S. 167 f.), um das
Individuum und seine Gefühle mit der Struktur der Gesellschaft zu versöhnen.
Zugleich erweitert eine solche Zukunftsgesellschaft je nach ihren ökonomischen
Möglichkeiten die authentischen Glücksgüter und die Raffinesse des Gefühlslebens.
Voraussetzung dafür wäre eine allmähliche Änderung unserer Triebstruktur.
Als authentische wäre sie nicht etwas Exotisches in einer Welt der Entfremdung
von unseren eigenen Gefühlen, sondern entspräche dann den neuen
gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen, denen sie sich zwanglos
einfügt. Oder genauer ausgedrückt: Eine neue der Vernunft nicht
entgegenstehende Gefühlskultur wäre das Ziel, dem sich – neben der
Befriedigung der vitalen Bedürfnisse – die neue Ökonomie und
Gesellschaftsstruktur anzupassen hätte. Die Humanisierung der Gefühle ginge
mit einer gewissen Naturalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse einher.
Unter dem Begriff der nicht-repressiven
Sublimierung hat Herbert Marcuse die Triebstruktur der Zukunft in einer
vernunftbestimmten Gesellschaft antizipiert. Dies setzt nichtentfremdete Arbeit
als Basis dieser Gesellschaft voraus. Da diese Art der Arbeit aber heute nicht
die Struktur der Gesellschaft bildet, ist jedes individuelle Ausleben der Gefühle
bestenfalls partiell und nur in Nischen möglich. „Wo die repressive
Sublimierung überwiegt und die Kultur bestimmt, muß sich die nicht-repressive
Sublimierung im Widerspruch gegen die gesamte Sphäre sozialer Nützlichkeit äußern“.
(Marcuse: Triebstruktur, S. 206) Erst
die radikale Änderung der ganzen Gesellschaftsstruktur mit ihrer Ökonomie
schafft die Bedingungen, die unser Triebleben befreien kann.
„Nur als soziales Phänomen
kann die Libido den Weg der Selbst-Sublimierung nehmen: als ununterdrückte
Kraft kann sie die Kulturbildung nur unter Bedingungen fördern, die zusammengehörige
Individuen in der Kultivierung der Umwelt aneinander bindet, um wachsenden Bedürfnissen
und Fähigkeiten gerecht zu werden. Die Reaktivierung polymorpher und narzißtischer
Sexualität stellt keine Bedrohung der Kultur mehr dar und kann selber der
Kulturentwicklung dienen, wenn der Organismus nicht als ein Instrument
entfremdeter Arbeit existiert, sondern als ein Subjekt der Selbstrealisierung
– mit anderen Worten, wenn sozial nützliche Arbeit gleichzeitig auch die
echte Befriedigung eines individuellen Bedürfnisses darstellt.“ (A.a.O., S.
207)
Erst jetzt kann das Lustprinzip sich wirklich
realisieren – wenn auch in den Schranken vernünftiger
Moral, seine Unterdrückung wäre sogar kontraproduktiv. „Der biologische
Trieb wird zum kulturellen Antrieb. Das Lustprinzip läßt eine eigene Dialektik
erkennen. Das erotische Ziel, den gesamten Körper als Subjekt-Objekt der Lust
beizubehalten, verlangt nach fortgesetzter Empfänglichkeit, nach Zunahme seiner
Sinnlichkeit.“ (A.a.O., S. 209) Statt
entfremdeter Arbeit schafft der Mensch ein Werk, in dem die Tätigkeit der
Herstellung selbst zum lustvollen Zweck wird. Dagegen hatte allerdings der späte
Marx eingewandt, dass Arbeit immer, also auch in einer sozialistischen
Gesellschaft, ein Reich der Notwendigkeit bleiben wird, jenseits dessen erst die
menschlichen Kräfte Selbstzweck sein können. Bedenkt man allerdings die sich
heute andeutenden Möglichkeiten automatischer Produktion, dann kann sich die
eigentliche Arbeit auf kreative Tätigkeiten verlagern, die nach dem Lustprinzip
funktionieren können.
Auch die Moral wird einem Wandel erfahren müssen. Sie wäre nicht mehr
die Moral der entfremdeten Arbeit und damit der innere Feind des Lustprinzips.
Wenn eine solche Gesellschaft eingespielt wäre, wenn Spiel und Arbeit fließend
ineinander übergehen, dann würden die Menschen wie selbstverständlich im
anderen nicht mehr den Konkurrenten sehen, nicht ein fremdes Objekt und Mittel für
die eigenen Bedürfnissen, sondern ein Individuum mit eigenen Zwecken und Wünschen,
die sich lustvoll mit den eigenen mal verbinden mal spielerisch voneinander lösen.
Der kantische Imperativ wäre kein Imperativ mehr, dessen Erfüllung Anstrengung
erforderte, sondern selbstverständlich gelebte Wirklichkeit. Doch auch hier
muss eine Einschränkung gemacht werden. Moral als sanfter Zwang der Vernunft lässt
sich nicht abschaffen. Sie muss zumindest als Regel in der Erinnerung bestehen
bleiben, soll nicht die Moralität, der Zustand realisierter Moral, in neue
Formen der Repression umschlagen. Die menschliche Individualität kann nicht nur
durch Vernunft bestimmt sein, sondern enthält immer auch ein Undefinierbares
und Unbewusstes, das auch zum Widersacher der anderen werden kann. Im
Konfliktfall muss der Imperativ wieder in Aktion treten.
Überhaupt wäre eine solche Zukunftsgesellschaft kein kultureller Rückschritt,
sondern die Fortentwicklung und Befreiung der bisher angehäuften Kulturgüter.
Auch die Vernunft, die heute von der Sinnlichkeit getrennt sein muss, wenn
letztere den entfremdeten Bedingungen durch das Realitätsprinzip unterworfen
ist, denn sonst könnte man die Entfremdung nicht begreifen, wird sich dann verändern.
„Ist die feindlich Trennung des körperlichen vom geistigen Teil des
Organismus selbst ein historisches Ergebnis der Unterdrückung und Verdrängung,
dann wird die Überwindung dieses Gegensatzes die geistige Sphäre für die
Impulse öffnen. Die ästhetische Idee einer 'sinnlichen Vernunft'
läßt an solch eine Tendenz denken. Sie unterscheidet sich wesentlich
von der Sublimierung, insofern die geistige Sphäre zum 'direkten' Ziel des Eros
wird und ein libidinöses Objekt bleibt“. (A.a.O., S. 207 f.)
Herbert Marcuse hat gefordert, diese neue Triebstruktur schon in der
bestehenden Gesellschaft zu entwickeln als ein revolutionäres Moment einer
freiheitlichen Bewegung. Diese Ansicht hat im Extremfall dazu geführt, dass
man für das Neue demonstrierte, dann Spaß an dem Demonstrieren fand und schließlich
demonstrierte, um Spaß zu haben – bis die Lust daran verging und man gar
nicht mehr demonstrierte. Ich dagegen nehme eher an, eine neue Triebstruktur,
auch wenn Elemente davon bereits in der Gegenwart vorweggenommen werden können,
bildet sich erst massenhaft heraus, wenn neue gesellschaftliche Strukturen
vorhanden sind. Hinter dieser Auffassung steht die Erfahrung, dass die
Triebstruktur eher konservativ ist, eher den Verhältnissen hinterher hinkt, als
dass sie vorauseilt. (Vgl. Fromm, als er noch nicht affirmativ argumentierte:
Charakterologie, S. 276)
Unabhängig von dieser Problematik hat Marcuse recht, wenn er eine neue
Triebstruktur antizipiert (solange er sie nicht konkretistisch auspinselt) –
die Ausführung und Modifikation dieser Antizipation ist unseren Nachfahren zu
überlassen. Dennoch kommt eine revolutionierende Veränderung nicht ohne Gefühle
aus, die sich alternativ von den vorherrschenden, die an Herrschaft gebunden
sind, abheben.
„Faschismus und Militarismus haben eine tödlich wirksame Solidarität
hervorgebracht. Sozialistische Solidarität ist Autonomie; Selbstbestimmung
beginnt zu Hause – und das gilt für jedes Ich und das Wir, welches das Ich
sich wählt. Und dieser Zweck muß in der Tat in den Mitteln seiner
Verwirklichung erscheinen, das heißt in der Strategie derjenigen, die in der
bestehenden Gesellschaft für die neue arbeiten. Wenn die sozialistischen
Produktionsverhältnisse eine neue Lebensweise sein sollen, dann muß sich ihre
existentielle Qualität – antizipierend und demonstrierend – im Kampf um
ihre Verwirklichung offenbaren. Ausbeutung in allen ihren Formen muß aus diesem
Kampf verschwunden sein: aus den Arbeitsverhältnissen der Kämpfer wie aus
ihren individuellen Verhältnissen. Verständnis, Offenheit im Umgang
miteinander, das instinktive Innewerden dessen, was schlecht, falsch, Erbe der
Unterdrückung ist, würden dann den authentischen Charakter der Rebellion
bezeugen. Kurz, die ökonomischen, politischen und kulturellen Züge einer
klassenlosen Gesellschaft müssen die Grundbedürfnisse derer geworden sein, die
um sie kämpfen. Dieser Einbruch der Zukunft in die Gegenwart, diese
Tiefendimension der Rebellion erklärt letztlich ihre Unvereinbarkeit mit den
traditionellen Formen des politischen Kampfes. Der neue Radikalismus widersetzt
sich ebenso der zentralisierten bürokratisch-kommunistischen Organisation wie
der halbdemokratischen liberalen. Ein starkes Element der Spontaneität, ja des
Anarchismus ist in dieser Rebellion enthalten. Es drückt die neue Sensibilität,
die Reizbarkeit gegenüber Herrschaft aus: das Gefühl und das Bewußtsein, daß
die Freude an der Freiheit und das Bedürfnis, frei zu sein, der Befreiung
vorangehen müssen.“ (Marcuse: Befreiung, S. 129 f.)
Gefühl und Vernunft können immer nur zusammen
gedacht werden. Die Vernunft leitet das Gefühl und setzt ihm
dauerhafte Ziele, das Gefühl, in diesem Streben nach Veränderung eingeübt,
ist ein mächtiger Antrieb, der den Willen unterstützt, die vernünftig
bestimmten Ziele durchzusetzen. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen aber
bleibt die Beziehung von Gefühl und Vernunft problematisch, Glück ist
bestenfalls nur als provisorisches möglich. Die Utopie, und sei sie noch so
konkret und wünschenswert, bleibt solange, bis sie verwirklicht ist, ein
Niemandsland. Sie geht aber als Maßstab der Kritik und als Zweck in die Mittel
ihrer Verwirklichung ein. Ein so verstandenes Verhältnis von Vernunft und Gefühl
in der Gegenwart zeigt sich nur im Kampf für eine bessere Welt. Wir haben nur
die Alternative, das Bestehende so zu lassen wie es ist – dann bleibt unser
Gefühlsleben gegenüber seinen Möglichkeiten reduziert, ist tendenziell mit
Entfremdung und mit Brutalisierung bedroht, oder wir versuchen das heute größtmögliche
Glück zu erreichen, das nur im Kampf gegen den gegenwärtigen Zustand
erreichbar ist, der unsere Vernunft beleidigt und sinnliches Glück verhindert.
Der Ich-Erzähler aus Jorge Sempruns Roman „Die große Reise“, ein
spanischer Widerstandskämpfer, der das Konzentrationslager Buchenwald überlebt
hat, schildert dieses Glück im Kampf so: „Ich denke, daß ich noch
nie, bis jetzt noch nie, etwas mit einem Seitenblick auf das Glück oder Unglück,
das mir daraus erwachsen könnte, unternommen oder beschlossen habe. Ich muß
sogar lachen bei dem Gedanken, daß mich jemand fragen könnte, ob ich an das Glück
gedacht habe, das dieser oder jener Entschluß mir bringen könnte, als sei
irgendwo ein Vorrat an Glück, eine Art Glückskonto vorhanden, von dem man Glück
abheben kann, als sei das Glück nicht im Gegenteil etwas, was sich oft mitten
in der größten Verzweiflung, mitten in der brennendsten Not einstellt, nachdem
man getan hat, was man (seiner Vernunft nach, BG) zu tun gezwungen war.“
(Zitiert nach: Gaßmann: Ethik des Widerstandes, S. 87) Gewiss wird diese Art
des provisorischen Glücks nicht das letzte Wort sein, aber es ist vielleicht
zur Zeit das einzige, bei dem Vernunft und Gefühl in Übereinstimmung sind.
Literatur
Amendt, Günter (1978) (Sexfront):
Sexfront. Überarbeitete Ausgabe, Ffm.
Aristoteles (1985) (Ethik):
Nikomachische Ethik. Auf der Grundlage der Übersetzung von Eugen Rolfes
herausgegeben von Günther Bien, Hamburg.
Freud, Sigmund (1972) (Unbehagen):
Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, Ffm.
Fromm, Erich (1932) (Charaktereologie):
Die psychoanalytische Charaktereologie und ihre Bedeutung für die
Sozialpsychologie, in: Zeitschrift für Sozialforschung. Hrsg. v. Max Horkheimer.
Jg. 1. dtv reprint. München 1980.
Fromm, Erich (1935) (Therapie):
Die gesellschaftliche Bedingtheit der psychoanalytischen Therapie, in:
Zeitschrift für Sozialforschung. Hrsg. v. Max Horkheimer. Jg. 4. dtv reprint. München
1980.
Fromm, Erich ( 2001) (Lieben):
Die Kunst des Liebens. Aus d. Amerikanischen v. Liselotte und Ernst Mickel, München.
Gaßmann, Bodo (2001) (Widerstand):
Ethik des Widerstandes. Abriß einer materialistischen Moralphilosophie.
Erinnyen Nr. 10 – 14, Garbsen.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
(1970) (Naturrecht): Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des
Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu
den positiven Rechtswissenschaften, in: Ders.: Werke Bd. 2, Ffm.
Horkheimer, Max (1935) (Anthropologie):
Bemerkungen zur philosophischen Anthropologie, in: Zeitschrift für
Sozialforschung. Hrsg. v. Max Horkheimer. Jg. 4. dtv reprint. München 1980.
Horkheimer, Max; Adorno, Theodor
W. (1973) (Aufklärung): Dialektik der Aufklärung, Ffm.
Kant, Immanuel (1975) (Logik):
Logik, in: Ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 5. Hrsg. v. W. Weischedel,
Darmstadt.
Kant, Immanuel (1984) (Hinsicht): Anthropologie in pragmatischer
Hinsicht, in: Ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 10. Hrsg. v. W. Weischedel,
Darmstadt.
La Mettrie, Julien Offray de
(1987) (Wollust): Die Kunst, Wollust zu empfinden. Hrsg. u. eingl. v.
Bernd A. Laska, Nürnberg.
La Mettrie, Julien Offray de
(1985) (Antiseneca): Über das Glück oder das Höchste Gut („Anti-Seneca“).
Hrsg. u. eingl. v. Bernd A. Laska, Nürnberg.
Marcuse, Herbert (1972) (Befreiung):
Versuch über die Befreiung, Ffm.
Marcuse, Herbert (1978) (Triebstruktur):
Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud,
Ffm.
Mensching, Günther (1971) (Autonomie):
Totalität und Autonomie. Untersuchungen zur philosophischen
Gesellschaftstheorie des französischen Materialismus, Ffm.
Plack, Arno (Hrsg.) (1973) (Mythos):
Der Mythos vom Aggressionstrieb, München.
de Sade, Donatien Alphonse
Francois (1972) (Juliette): Die Geschichte der Juliette, in: ders.:
Ausgewählte Werke Bd. 5, Hamburg.
Weizenbaum, Josef (1977) (Computer):
Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft. Übersetzt von Udo Rennert,
Ffm.
Ziehe, Thomas (1978) (Pubertät):
Pubertät und Narzißmus. Sind Jugendliche entpolitisiert? Mit einem Vorwort von
Regina Becker-Schmidt, Ffm. und Köln.