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Inhalt des 2. Teils

Kritik des gegenwärtigen Zustands der bürgerlichen Demokratie

Fazit: Die demokratischen Formen

Konkret zu den Wahlen

Sozialismus und Demokratie

Rätedemokratie

Sozialistische Demokratie und bürgerliche Errungenschaften

Kampf um Verfassungspositionen

Literatur

Kritik des gegenwärtigen Zustands der bürgerlichen Demokratie

 Allgemein gilt, dass eine vernünftige Bestimmung des Allgemeinwohls auf der Grundlage der kapitalistischen Verhältnisse nicht möglich ist. Die Konkurrenz unterschiedlicher Kapitalfraktionen und der Klassenkampf zwischen Kapital und Arbeit lassen eine gesamtgesellschaftliche Bestimmung des Allgemeinwohls nicht zu. Da die Anarchie dieser Produktionsweise die Menschheit in kriegerische Katastrophen und Völkermord gestürzt hat und seit 1945 sogar eine Vernichtung der Spezies Mensch mit Atomwaffen möglich ist, bestünde heute ein recht verstandenes Allgemeinwohl in der Abschaffung dieser leichenträchtigen Produktionsweise.

 Aber auch die konkrete Erscheinungsform der Demokratie ist gemessen an bürgerlich demokratischen Maßstäben kritikwürdig. Eine Linke, die nach dem Legalitätsprinzip die politische Macht erobern will, um mit revolutionären Reformen sozialistische Verhältnisse zu etablieren, muss diese Tendenzen des Zerfalls der bürgerlichen Demokratie reflektieren, um in dieser Gesellschaft wirkungsvoll agieren zu können. Im Folgenden geben wir einige Stichpunkte zur Kritik der Demokratie. 

-         Durch die ständige Anhäufung von Kapital wächst die Macht der Kapitalistenklasse „geometrisch“, während die ökonomische Potenz der Lohnabhängigen gleich bleibt oder gar zurückgeht. Das drückt sich auch in wachsender politischer Macht aus.

-         Die Masse der Sicherheits- und Notstandsgesetze unterhöhlen die demokratischen Freiheitsrechte.

-         Die Gewaltenteilung ist ohne wirkliche Teilung der Gewalten, da die Parteien ihre Vertreter in alle „Gewalten“ delegieren, so dass eine Partei alle drei Gewalten beherrschen kann. Die Gewaltenteilung wird ersetzt durch eine Verquickung von Regierung, Bürokratie und Justiz durch parteipolitische Ämterpatronage.

-         Der Staat ist längst nicht mehr der neutrale Schiedsrichter in Tarifverhandlungen zwischen privaten Unternehmen und Lohnabhängigen, weil er inzwischen selbst das größte Unternehmen geworden ist.

-         Oft sind Menschenrechte nur noch schöner Schein oder sie werden missbraucht als Propagandamittel für Kriege. (Vgl. auch die Folterdebatte)

-         Kleinere Parteien werden mittels rechtlicher Hürden unterdrückt (Fünfprozentklausel).

-         Das Bewusstsein der Massen wird durch ein faktisches Medienmonopol der herrschenden Klasse kolonisiert.

-         Die Rechtssprechung ist teilweise durch willkürliche Auslegung des Rechts gekennzeichnet bis hin zur „Zerstörung der sittlichen Grundlage der Justiz" (vgl. genauer P.Bulthaup), indem widersprechende Gesetze erlassen werden, so dass die Rechtskontrahenten sich durchsetzen, die sich die besten Anwälte leisten können, weil sie das meiste Geld haben.

-         Die Vertreter der herrschenden Klasse sind trotz der Intelligenz, die man für die Karriere braucht, durch geistige Niveaulosigkeit gekennzeichnet (vgl. die Hersh-Rezension).

-         Es herrscht ein allgemeiner Opportunismus der gewählten Abgeordneten vor (Parteidisziplin, Fraktionszwang), die dadurch zu ungebremsten Vollstreckern der Bedürfnisse des Kapitals werden.

-         usw.

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 Fazit: Die demokratischen Formen

 Die von der bürgerlichen Theorie und Praxis entwickelten demokratischen Formen sind historische Errungenschaften, hinter die eine sozialistische Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der kapitalistischen Produktionsweise nicht zurückfallen darf. Das impliziert auch, die gegenwärtigen demokratischen Formen nicht bloß als politischen Ausdruck der herrschaftlich verfassten Ökonomie anzusehen (was sie immer auch sind), sondern an ihren Anspruch die Unwahrheit ihres Inhalts aufzuzeigen, um sie in eine fortschrittlichere Organisation der Gesellschaft aufheben zu können.

 Zu diesen Errungenschaften gehören die Menschenrechte (bis auf das Eigentumsrecht an Produktionsmitteln) (vgl. Widerstand, S. 26 ff.), darauf beruhend der Gedanke der Volkssouveränität, das Wahl- und Mehrheitsprinzip, die Gebundenheit der Exekutive an Recht und Gesetz, das Recht auf Opposition, die Koalitionsfreiheit, die Kontrolle der Macht (als Gewaltenteilung oder durch imperatives Mandat) und einige andere. Eine linke Politik ist deshalb per se demokratisch oder sie ist keine linke Politik. Sie hat diese Errungenschaften zu verteidigen und weiter zu entwickeln, aber sie nicht als bloße Form der kapitalistischen Herrschaft zu denunzieren.

 Konkret zu den Wahlen

 Der Autor der Demokratiekritik ist anscheinend der Auffassung, dass ein paar Argumente genügen, den Kapitalismus abzuschaffen. Er hat ein paar schlagende Argumente dafür, dass die Bedürfnisse der Lohnabhängigen im Kapitalismus nicht befriedigt werden – egal, wen sie wählen -, also werden diese das verstehen und die kapitalistische Produktionsweise abschaffen. Was für eine idealistische Illusion angesichts der geballten Medienmacht des Kapitals und der „Macht der Gewohnheit von Millionen und aber Millionen“ (Lenin), die loyal an das kapitalistische System gebunden sind. Seine Aufforderung nicht zu wählen, weil dies sinnlos sei, gedenkt noch nicht einmal die Wahlen als Tribüne für eine Veränderung zu nutzen, geschweige denn den Inhalt, der demokratische Formen als Formen impliziert, zu reflektieren. Gegen solchen Scheinradikalismus hatte schon Lenin nach dem 1. Weltkrieg eingewandt:

 „Selbst wenn keine ‚Millionen’ und ‚Legionen’, sondern bloß eine ziemlich beträchtliche Minderheit von Industriearbeitern den katholischen Pfaffen und von Landarbeitern den Junkern und Großbauern nachläuft, ergibt sich schon daraus unzweifelhaft, daß der Parlamentarismus in Deutschland politisch noch nicht erledigt ist, daß die Beteiligung an den Parlamentswahlen und am Kampf auf der Parlamentstribüne für die Partei des revolutionären Proletariats unbedingte Pflicht ist, gerade um die rückständigen Schichten ihrer Klasse zu erziehen, gerade um die unentwickelte, geduckte, unwissende Masse auf dem Lande aufzurütteln und aufzuklären.“ (Kinderkrankheit, S. 44)

 Lenins Verachtung demokratischer Formen ist selbst kritikwürdig. Aber er hat sich unter demokratischen Bedingungen keine sozialistische Bewegung vorstellen können, die nicht das Parlament als Tribüne benutzt. Selbst ein solch taktisches Verhältnis zum bürgerlichen Parlamentarismus kommt dem Autor nicht in den Sinn. Er will mit ein paar Internetartikeln anscheinend den Kommunismus herbeizaubern. Nun gibt es heute keine „Partei des revolutionären Proletariats“, auf diesen Fakt geht unser Autor aber mit keinen Satz ein, anscheinend ist ihm die Umsetzung seiner Vorstellungen egal. Böswillig könnte man mit Lenin psychologisieren und soziologisieren:

 „Der durch die Schrecken des Kapitalismus ‚wild gewordene’ Kleinbürger ist eine soziale Erscheinung, die ebenso wie der Anarchismus allen kapitalistischen Ländern eigen ist. Die Unbeständigkeit dieses Revolutionarismus, seine Unfruchtbarkeit, seine Eigenschaft, schnell in Unterwürfigkeit, Apathie und Phantasterei umzuschlagen, ja sich von dieser oder jener bürgerlichen ‚Mode’-strömung bis zur ‚Tollheit’ fortreißen zu lassen – all das ist allgemein bekannt.“ (Kinderkrankheit, S. 17)

 Gerade eine solche „Phantasterei“ zeigt unser Autor, wenn er schreibt: „Das Bestehen auf demokratischen Verfahren ist die Folge einer Unterstellung, nämlich der, dass eines permanenten Misstrauens und eine andauernden Konkurrenz der Leute. In dieser Gesellschaftsvorstellung kommt es also zu diversen Interessenkollisionen. Man merkt hier, dass Konkurrenz und Interessengegensätze als eine Art Naturzustand unterstellt werden (...)  Andererseits können sich diese Leute (gemeint sind demokratische Sozialisten, B.G.) offenbar überhaupt nicht vorstellen, dass sich entweder Interessen auch ignorieren oder eben inhaltlich einig werden können. Da kommt’s dann aber nicht auf ein Verfahren, sondern auf die Sache, mit der man sich auseinandersetzt an, auf die Argumente, Einwände usw. und nicht auf Mehrheiten/Minderheiten, Über- und Unterordnung.“ (Demokratiekritik, S. 14)

 Da ist nun alles drin, was einen linken Schwärmer ausmacht: Permanentes Misstrauen und andauernde Konkurrenz, die vielleicht einmal nach ein paar Jahrhunderten Kommunismus aus der Triebstruktur des Menschen verschwunden sein könnten, werden zum Argument gegen gegenwärtige Wahlen. Interessenkollisionen werden in einer sozialistischen Gesellschaft dereinst inhaltlich geeinigt, bei denen es „nicht auf Verfahren“ ankommt, sondern auf „Argumente, Einwände usw.“, die anscheinend von einer Elite von geschulten Führern, zu der sich der Autor mit diesem Aufsatz scheinbar qualifiziert hat, diskutiert werden, die dann bestimmen, was „Mehrheiten/Minderheiten“ für Interessen und Bedürfnisse haben müssen. Dem kann man nur mit R. Luxemburg entgegnen, was sie Lenins Partei ins Stammbuch geschrieben hat:

 „Ohne allgemeine Wahlen, ungehemmte Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder der öffentlichen Institutionen, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft – eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d.h. Diktatur im bürgerlichen Sinne (...)“ (Revolution, S. 75)

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 Sozialismus und Demokratie

 Die entscheidende Frage ist, ob in einer sozialistischen Gesellschaft demokratische Formen konstitutiv sein werden oder nicht. Die These des Autors der Demokratiekritik behauptet nein, weil Demokratie eine politische Herrschaftsform sei, die nur der Ausdruck ökonomischer Herrschaft wäre (auch wenn er diese beiden Begriffe nicht klar unterscheidet). Doch diese Frage kann man nur vernünftig beantworten, wenn man sich einige Tatsachen über die moderne Industriegesellschaft ins Gedächtnis ruft. (Von den Schwierigkeiten, den Sozialismus auf der ganzen Welt zu installieren oder den Beziehungen zu den armen Ländern der Erde nach einer sozialistischen Umgestaltung, rede ich hier gar nicht.) Lehnt man die Industriegesellschaft ab, dann kann man nur zu einem Steinzeitkommunismus à la Pol Pot kommen, d.h. zu einem Massenmord bereits dadurch, dass die heutige Bevölkerungszahl gar nicht ernährbar ist ohne Industrie. Dies will der Autor anscheinend nicht, also geht er von einer sozialistischen Industriegesellschaft als Ziel seiner gesellschaftspolitischen Vorstellungen aus.

 Eine sozialistische Industriegesellschaft kann nicht ohne eine „Über- und Unterordnung“ auskommen. Der Produktionsvorgang z.B. in einem Großbetrieb ist viel zu komplex, als dass man ohne Leitungsfunktionen auskommen könnte. Im Sozialismus kann zwar die funktionale Hierarchie im Produktionsprozess von der sozialen Hierarchie abgekoppelt werden, so dass für alle soziale Gleichheit der Lebenschancen besteht, aber die Hierarchie kann nicht abgeschafft werden, ohne den Produktionsprozess zu zerstören.

 Weiter besteht eine sozialistische Industriegesellschaft aus Arbeitsteilung. Das Wort vom „morgens fischen, nachmittags jagen und abends kritischer Kritiker sein“ des jungen Marx ist eine romantische Illusion. Arbeit, Arbeitsteilung, Spezialisierung und damit ein gewisses Maß an Entfremdung bleibt ein Wesenszug auch einer sozialisierten Industrie. Marx spricht im Kapital III deshalb auch vom „Reich der Notwendigkeit“. Zwangsläufig ergeben sich daraus auch unterschiedliche Interessen, die zwar nicht mehr antagonistisch sind, wie die zwischen Lohnabhängigen und Kapitalbesitzern heute, die aber eine Form der Regulierung bedürfen, sollen sie nicht zu unterschwelligen Machtballungen führen, wie sie Luxemburg schon für das frühe Sowjetrussland andeutet und wie sie sich im Begriff der „Nomenklatura“ später verselbstständigte.

 Überhaupt scheint der Autor der Demokratiekritik die ungeheuren Erfahrungen der Sowjetunion, die Millionen Tote gefordert haben, nicht zur Kenntnis genommen zu haben, denn er schwärmt von einem Sozialismus, den es auf dem Stand der heutigen Produktivkräfte nicht geben kann. Gibt es keine geregelten demokratischen Verfahren, mit denen die Konflikte, Interessengegensätze und die individuellen Bedürfnisstrukturen geregelt werden, dann entsteht eine neue Art von autoritärem politischen System, das Mathias Wiards in Bezug auf die letzten Jahre der DDR analysiert hat. Über deren Untergang schreibt er:

 „Ideologie und Herrschaftsform haben verstärkend auf die realsozialistische Krise gewirkt. Die rechtfertigende Grundlage für die marxistisch-leninistische Kapitalismuskritik sollte vor allem die ökonomische Leistungsfähigkeit sein. Hier trafen sich ein technizistisches Politikverständnis mit dem Versuch, Kategorien wie Herrschaft und Selbstbestimmung nicht zum Inhalt öffentlicher Diskussion werden zu lassen. Die Usurpation von Verantwortung durch die Zentrale führte dazu, daß diese von der Bevölkerung und vielen Funktionären auch für alles verantwortlich gemacht wurde; ein gesellschaftliches Problembewußtsein, das praktisch hätte werden können, wurde nach Kräften unterdrückt. Besonders verheerend waren in diesem Zusammenhang die marxistisch-leninistische Reduktion von Gesellschaftstheorie auf ein Instrument der Praxis  (...)  Umgekehrt, und vor allem dieser Aspekt wird in der Literatur vernachlässigt, wirkte die ökonomische Krise  verstärkend gerade auf die Elemente marxistisch-leninistischer Ideologie und Tendenzen der Herrschaftspraxis, die sich vom emanzipativen Gehalt der marxistischen Tradition entfernten.“ (Realsozialismus, S. 250, Hervorhebungen von mir)

 Diesen emanzipatorischen Gehalt sah Marx in der Politik einst durch die Rätedemokratie als „endlich gefundene politische Form“ der sozialistischen Gesellschaft realisierbar. Deren Pervertierung zu einem Instrument der Partei und damit die Eliminierung ihrer emanzipatorischen Möglichkeiten hat die sozialistische Bewegung wahrscheinlich um hundert Jahre zurückgeworfen. Die Vorstellung des Autors der Demokratiekritik sieht diese Möglichkeiten gar nicht mehr vor, Sozialismus ist bei ihm reduziert auf genug Äpfel und Birnen für jeden. Konsequent zu Ende gedacht würde eine demokratielose Gesellschaft mit sozialisierten Produktionsmitteln entweder in einer neuen Diktatur einer Parteielite (Sowjetunion) enden oder wieder zerfallen in konkurrierende Produktionseinheiten (China), in beiden Fällen wäre noch nicht einmal die materielle Bedürfnisbefriedigung der „Leute“ gesichert.

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 Rätedemokratie

 Als die Pariser 1870 einen Aufstand gegen ihre Kollaborationsregierung machten, war es für Marx unmöglich, den bürokratischen Staatsapparat des autoritären Regimes des Kaisers zu übernehmen, um damit sozialistische Verhältnisse zu etablieren. Er wollte vor allem die Trennung von Staat und Gesellschaft zurücknehmen, die seit dem Absolutismus bestand (und heute weiter fortbesteht). Deshalb sah er den Machtschwerpunkt in der „Kommune“ und nicht in einer Zentralregierung. Die entstehende Kommune von Paris lieferte ihm das endlich gefundene Vorbild für eine neue sozialistische Gesellschaftsordnung. Die Verallgemeinerung der Pariser Kommune wurde zum Vorbild und Ausgangspunkt für die Theorie und Praxis einer sozialistischen Demokratie, wo immer sie versucht wurde (Russland 1905, 1917; Deutschland 1918, Ungarn 1919, Jugoslawien 1949 u.a.).

 Im Ortsrat oder der „Kommune“ liegt der Machtschwerpunkt in diesem Demokratiemodell. Selbstverständlich sind sozialistische Produktionsverhältnisse vorausgesetzt. Die Delegierten zum Ortsrat werden von der Bevölkerung der Kommune mit imperativen Mandat gewählt, sind jederzeit abwählbar und müssen die Aufträge der Wähler ausführen. Die Bevölkerung ist auf sozial gleichem Niveau und die Delegierten werden mit einem Facharbeiterlohn bezahlt. Die Produktion ist sozialisiert, die Betriebe haben nach Korsch eine gewisse industrielle Autonomie und der Produktionsplan kommt durch gemeinsame Verabredung zustande, so dass die Bedürfnisse aller eingehen können. Wie die Bürger der Kommune die Delegierten zum Ortsrat bestimmen,wählen sie auch die Richter und die Beamten, die ihrer Kontrolle unterliegen und jederzeit absetzbar sind. Soweit Selbstverteidigungskräfte noch notwendig sind, übernimmt dies eine Bürgermiliz.

 Soweit die Kommunen untereinander der Koordination bedürfen, wird dies von einem Bezirksrat organisiert, dessen Beschlüsse aber allein von den Ortsräten ausgeführt werden. Die Delegierten des Bezirksrates werden durch imperatives Mandat von den Ortsräten gewählt, die dadurch auch den Bezirksrat kontrollieren und absetzen können.

 Für die nationale Koordination ist der Nationalrat zuständig, der mit imperativem Mandat von den Bezirksräten gewählt wird. Er arbeitet den gesamtgesellschaftlichen Wirtschaftsplan auf Grund der Empfehlungen der Kommunen aus und ist für Außenpolitik und Landesverteidigung zuständig. Auch seine Beschlüsse werden von den Kommunen ausgeführt. Gegenüber der parlamentarischen Demokratie ist die rätedemokratische Kommune ein gesetzgebendes und ausführendes Organ zugleich. Die in der parlamentarischen Demokratie verankerte Gewaltenteilung existiert im Rätemodell durch das imperative Mandat: Nicht Institutionen kontrollieren sich gegenseitig, sondern die Bevölkerung kontrolliert das Machtzentrum Kommune, und bei den anderen Organen kontrollieren jeweils die unteren das obere. Durch die Aufhebung der Trennung von Staatsapparat und Volk entsteht eine Einheit von Gesellschaft und ihrer Organisation, an der alle mitwirken. Gegenüber dem periodischen Einfluss im parlamentarischen System hat die Bevölkerung ständig Einfluss auf die Politik in der Kommune und im ganzen Land. Da alle eine gleiche Entlohnung bekommen, sind auch keine materiellen Interessen an irgendeine Funktion gebunden (Trennung von funktionaler und sozialer Hierarchie), wobei die soziale Hierarchie als materielle verschwunden ist.

 Sozialistische Demokratie und bürgerliche Errungenschaften

 Gegen dieses Modell wurde vorgebracht, dass es für kleinere Einheiten wie Stadtrepubliken funktionieren könnte, nicht aber für größere Gebilde wie etwa einem Flächenstaat wie Deutschland mit über 80 Millionen Menschen. Im Zeitalter des Internets wäre aber die „Volksversammlung“ durchaus mit technischen Mitteln überflüssig zu machen. Ein weiteres Argument ist, dass die Einzelnen überfordert seien, ständig in der Politik auf dem Laufenden zu sein, um qualifiziert mitzubestimmen. Die Erfahrung im frühen Sowjetrussland zeigt, dass sich Räte durch eine Partei monopolisieren lassen, so dass die Rätedemokratie zu einem Akklamationsinstitut verkommt. Dies setzt aber bereits die Diktatur einer Partei und die Ausschaltung von bestimmten Menschen- und Bürgerrechten voraus, die den Rätegedanken vollkommen widersprechen. Polnische Sozialisten haben ein eigenes Produktionsparlament vorgeschlagen, dass den ökonomischen Gesamtplan festlegt, anstatt dies einem nur indirekt gewählten Nationalrat zu überlassen.

Meine persönliche Meinung (und mehr als eine Meinung zu den einzelnen Formen habe ich nicht) ist es, die Frage der Organisation einer sozialistischen Demokratie denen zu überlassen, die in einer konkreten historischen Situation sich entscheiden müssen. Ich könnte mir auch eine sozialistische Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung in parlamentarischen Formen vorstellen. Auf jeden Fall aber müssen die bürgerlichen Errungenschaften, die in den demokratischen Prinzipien enthalten sind, in einer sozialistischen Demokratie aufgehoben sein. In dem rätedemokratischen Modell wie in einem sozialistischen Parlamentarismus sind die Menschen- und Bürgerrechte allererst verwirklicht, weil sie nicht mehr durch Ausbeutung und verselbstständigte Kapitalakkumulation  untergraben werden (vgl. Widerstand, S. 57). Die Autonomie der Menschen ist nicht nur rechtlich, sondern auch ökonomisch gesichert. Volkssouveränität ist nicht nur ein Versprechen, während tatsächlich die Gesetze der Kapitalproduktion regieren, sondern mit einem vernünftig bestimmten Allgemeinwohl, das sich auch in dem Produktionsplan ausdrückt, können sich die Menschen kraft ihrer Vernunft identifizieren. Das Mehrheitsprinzip kommt zu sich selbst, da die nicht-antagonistischen Interessen zu einem fairen Ausgleich gelangen können, auch wenn nur so weit Bedürfnisse befriedigt werden können, wie die Menschen durch ihre Arbeit produzieren wollen. Auch weiterhin wird es Kontroversen geben, insofern müssen Minderheiten und die Opposition geschützt sein; die negativen Erfahrungen der Sowjets sind dafür ein Lehrstück in der Geschichte.

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 Kampf um Verfassungspositionen

 Der Autor der Demokratiekritik hat einige Probleme des gegenwärtigen politischen und ökonomischen Systems in kritische Absicht dargestellt. Seine Ablehnung aber jeglicher demokratischer Formen für eine sozialistische Bewegung ist romantischer Anarchismus, in ihrer Konsequenz reaktionär. Er ruft indirekt zum Wahlboykott auf, ohne über die Bedingungen eines solchen Boykotts zu reflektieren, ohne zu prüfen, ob die Wahl wenigstens taktisch eine Tribüne für Gedanken sein könnte, die Produktionsweise zu verändern. Nichts davon in seinem Text. Er überspringt die Gegenwart des gefestigten demokratischen Kapitalismus und argumentiert aus der Perspektive eines vollendeten Kommunismus. Dies ist abstraktes Denken, revolutionäre Romantik, linke „Kinderkrankheit“ des Kommunismus, oder genauer, Anarchismus, und das Vergessen aller historischen Erfahrung. Er wirft seinen theoretischen Gegnern Idealismus vor und hat selbst eine steile idealistische Perspektive, die er nicht mit der Gegenwart vermitteln kann. Sozialismus/Kommunismus ist aber kein Ideal, auch keines der Interessengleichheit, sondern die tatsächliche Bewegung im Hier und Jetzt. Seine richtige Kapitalismuskritik schlägt durch seine bewusst simplifizierende oder naive Vorstellung vom Sozialismus um in eine letztlich indirekte Apologie des Bestehenden. „Das sicherste Mittel, eine neue politische (und nicht nur eine politische) Idee zu diskreditieren und ihr zu schaden, besteht darin, sie ad absurdum zu führen, während man sie verteidigt.“ (Kinderkrankheit, S. 47)

 Herbert Wehner hat einmal das bundesdeutsche Grundgesetz als Hausordnung für alle Klassen, nicht nur für die Reichen (Kapitalbesitzer) bezeichnet. Ist dem so, dann müssten auch sozialistische Eigentumsverhältnisse und eine rationale Planwirtschaft vereinbar sein mit dem Grundgesetz, wenn sich eine Mehrheit dafür findet. Artikel 15 des Grundgesetzes bestimmt nun, dass eine „Überführung in Gemeineigentum (Sozialisierung)“ möglich ist.

 „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“ (Grundgesetz, S. 30)

 Soweit ich sehe, enthält keine andere demokratische Verfassung in Europa einen Artikel, der den Einstieg in den Sozialismus ermöglicht. Dies ist nur erklärbar aus der Situation 1948/49 in den Westzonen Deutschlands. Das ist Verfassungsrecht, die Verfassungswirklichkeit sieht anders aus. Tatsächlich sind heute 99 % der Bundestagsabgeordneten für die bestehenden Eigentumsverhältnisse und die kapitalistische Marktwirtschaft. Zustimmungszahlen, welche die SED in der Volkskammer mit staatlichen Manipulationen für ihr Regime erreichte, werden in der bundesdeutschen Demokratie ohne staatliche Gewaltmaßnahmen für die bestehende Wirtschaftsweise erlangt. Gäbe es eine sozialistische Partei im Bundestag, dann könnte sie sich auf diesen Artikel berufen. Stattdessen wird er von der prokapitalistischen Rechtssprechung und der bürgerlichen Deutungsmacht abgewertet. Der Grundgesetz-Kommentator Binder schreibt dazu: „Gerade weil man in den Jahren nach 1949 auf eine Verwirklichung der in Art. 15 gegebenen Möglichkeiten verzichtet hatte, lag es nahe, ihn allmählich zu vergessen. Daher gibt es Verfassungsrechtler, die meinen, Art. 15 sei nur eine Ausnahmevorschrift für Notlagen und Krisenzeiten, oder ihn gar für erledigt, vergessen und überholt (‚obsolet’) erklären.“ (Grundgesetze, S. 30)   Es wäre eine Aufgabe linker Rechtspolitik, dieser reaktionären Deutung zu widersprechen. Lehnt man aber solche konkreten Politikschritte ab und verunglimpft die demokratischen Formen pauschal wie der Autor der Demokratiekritik, wird man im Hier und Jetzt politikunfähig.

 Verfassungsfragen in der Demokratie sind Machtfragen. Eine sozialistische Politik hat die demokratischen Formen gegen ihren kapitalistischen Inhalt zu verteidigen, um den Inhalt zu verändern. Die Reaktion von Konservativen und Neoliberalen versucht ständig die demokratischen Rechte juristisch und faktisch einzuschränken. Die abstrakte Negation demokratischer Formen und Rechte durch den Autor der Demokratiekritik spielt in diesem Zusammenhang den Kräften in die Hände, die er andererseits kritisiert. Eine Linke, die sich von der Demokratie verabschiedet, gibt sich selbst auf und wird reaktionär. „Die europäische Arbeiterbewegung hat – wenn man vom Anarchismus einmal absieht – unabhängig von sonstigen Differenzen die politische Funktion des Kampfes um Verfassungspositionen gekannt.

Am klarsten hat Friedrich Engels diese Funktion formuliert: ‚Die politischen Freiheiten, das Versammlungs-, Assoziationsrecht, die Pressefreiheit, das sind unsere Waffen; wie sollen wir die Arme verschränken und Abstinenz üben, wenn man sie uns nehmen will.“ (Verfassungspositionen, S. 110 f.)  Diesem Appell von Engels und Seifert ist nichts hinzuzufügen.

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Literatur

 (Belegt werden die Zitate im Text nach den fett gedruckten Stichworten. Die Seiteneinteilung ist von mir hinzugefügt.)

 (Ohne Autor): Die Demokratie und ihre Idealisten, in: www.junge-linke.de. (Demokratiekritik)

 Bulthaup, Peter: Rechtspragmatik oder von der Zwangsläufigkeit des sittlichen Verfalls der Justiz, in: Ders.: Das Gesetz der Befreiung. Und andere Texte, Lüneburg 1998, ‚S. 67-91.

 Gassmann, Bodo: Ethik des Widerstandes, Garbsen 2000.

 Grundwissen. Grundgesetz, von Gerhart Binder, Stuttgart 1985.

 Lenin, W.I: Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: Lenin: Werke Bd. 31, Berlin 1983, S. 1-91.

 Locke, John: Über die Regierung (The Second Treatise of Government). In der Übersetzung von Dorothee Tidow mit einem Nachwort hrsg. v. Peter Cornelius Mayer-Tasch, Stuttgart 1978.

 Luxemburg, Rosa: Die Russische Revolution. Eingeleitet und herausgegeben von Ossip K. Flechtheim, Ffm. 1963

 Macpherson, C.B.: Die politische Theorie des Besitzidealismus. Von Hobbes bis Locke. Aus dem Englischen von Arno Wittekind, Ffm. 1973.

 Marsilius von Padua: Der Verteidiger des Friedens. Auf Grund der Übersetzung von Walter Kaunzmann bearbeitet von Horst Kusch. Auswahl und Nachwort von Heinz Rausch, Stuttgart 1985.

 Marx, Karl: Kritik des Gothaer Programms, in: MEW 19, S. 11-33.

 Marx, Karl: Bürgerkrieg in Frankreich, in: MEW 17, S. 591-596.

Mensching, Güther: Rousseau zur Einführung, Hamburg 2000.

 Seifert, Jürgen: Kampf um Verfassungspositionen. Materialien über die Grenzen und Möglichkeiten von Rechtspolitik, Köln/Ffm. 1974.

 Wiards, Mathias: Krise im Realsozialismus. Die Politische Ökonomie der DDR in den 80er Jahren, Hamburg 2001. 

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Zu einer Antwort auf meine Kritik...

Zum Text: Demokratiekritik

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