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Dies ist ein Auszug aus einer größeren Arbeit über Hannah Arendt, siehe auch: http://www.erinnyen.net/Philosophiegeschichte.html
5. Die Verwilderung des Denkens:
Hannah Arendt über Karl Marx
Wenn es um Marx geht, dann ist bei bestimmten bürgerlichen Denkern alles erlaubt: Die Standards geistiger Arbeit wie sine ira et studio sind vergessen und jede absurde Behauptung gegen das marxsche Denken wird willkommen geheißen und veröffentlicht. Fälschungen, Unkenntnis, absurde Argumente und Verdrehungen werden zu geistigen Tugenden. Hier einige Kostproben dieser Unmethode, der sich auch Hannah Arendt schuldig macht.
Verwechslung der marxschen Theorie mit dem Sowjetmarxismus: Historische Gesetze
Arendt identifiziert Erscheinungen und ideologische Denkmuster der „totalitären Herrschaft“ mit wissenschaftlichem Denken. So die „Rassengesetze“ des deutschen Faschismus mit Darwins Evolutionstheorie (totaler Herrschaft 3, S. 241) sowie die Umdeutung ökonomischer Mechanismen, die Marx herausgefunden hat, zu Gesetzen der Geschichte im Sowjetmarxismus, die dann jeden politischen oder rechtlichen Schwenk utilitaristisch erlauben: „was gestern Recht war, ist heute überholt und Unrecht geworden“ (a. a. O., S. 241). „Dem Glauben der Nazis an Rassegesetze lag die Darwinsche Vorstellung vom Menschen als einem eigentlich zufälligen Resultat einer Naturentwicklung zugrunde, die nicht notwendig mit dem Menschen an ihr Ende gekommen zu sein braucht. Dem Glauben der Bolschewisten an Geschichtsgesetze liegt Marx‘ Vorstellung von der menschlichen Gesellschaft als dem Resultat eines gigantischen Geschichtsprozesses zugrunde, der mit immer vergrößerter Geschwindigkeit seinem Ende entgegenrast und sich selbst als Geschichte aus der Welt schafft.“ (A. a. O., S. 241 f.) Den „praktischen Geschichtsprozeß“, „der mit immer vergrößerter Geschwindigkeit seinem Ende entgegen rast“ kann man nicht kritisieren, weil es bei Marx solch eine Aussage nirgends gibt. Arendt erfindet hier Behauptungen, die nichts mit Marx zu tun haben, um damit seine Theorie zu diskreditieren. Selbst wenn sie Marx nur aus dem Marxismus der Stalinperiode kennt, hat diese Aussage keinen Gegenstand. Auch dass sie Darwin als Urheber des Rassismus ansieht (S. 242), ist bloß eine unbegründete Behauptung. Aufklären über ihren begrifflichen Schwindel kann nur die Erkenntnis der Problematik, die hinter den originären Theorien steht. Arendt schreibt über Darwin: „Darwins Einführung des Begriffs der Entwicklung in die Natur, seine biologischen Konstruktionen, die alle darauf hinauslaufen, daß die Bewegung der Natur, nämlich ihre Entwicklung, nicht kreisförmig, sondern gradlinig verläuft in einer eindeutig angebbaren, fortschreitenden Richtung, besagt schließlich nichts anderes, als daß der moderne Geschichtsbegriff sich auch der Naturwissenschaften bemächtigt hat und daß der Bereich der Natur von dem Bereich des Geschichtlichen überwältigt wurde.“ (A. a. O., S. 243) Die Unkenntnis von Arendt fällt sogar hinter das Lexikonwissen ihrer Zeit zurück. Lebewesen müssen, wenn sich die Umwelt ändert, an diese sich anpassen. Dies geschieht, indem zufällige Mutationen sich als besser geeignet erweisen als die bestehenden Eigenschaften. Solche Mutationen haben einen größeren Erfolg bei der Fortpflanzung und setzen sich allmählich durch, weil sie angepasster sind. Da Mutationen zufällig sind, kann es auch keinen „Fortschritt“ „in einer eindeutig angebbaren, fortschreitenden Richtung“ geben. Dieses Prinzip der Auswahl nennt Darwin survival of the fittest und nicht wie Arendt „Recht des Stärkeren“. Sie verwechselt die darwinsche Erkenntnis der Evolution mit dem Sozialdarwinismus, der bereits eine Verfälschung seiner Lehre war. Insgesamt zeigt dieses obige Zitat den Konservatismus von Arendt, der selbst eine Geschichte der Entwicklung von Lebewesen negiert – sie kommt damit in die Nähe der Kreationisten und bibeltreuen Christen.
Die von Marx erkannten Mechanismen gesellschaftlicher Entwicklung werden von Arendt zu „Naturgesetzen“ umgedeutet: „Andererseits ist das marxistische historische Gesetz des Klassenkampfes letztlich in ein Naturgesetz verankert, insofern bei Marx die Entwicklung der Produktionsverhältnisse ihren Ursprung in der Entwicklung der menschlichen Arbeitskräfte hat, die ihrerseits als der menschliche „Stoffwechsel mit der Natur“ definiert ist, also als eine biologisch-natürliche Kraft, durch die der Mensch sein eigenes Leben wie das Fortleben der Gattung sichert.“ (A. a. O., S. 243) Eine Folge dieser Gesetze sei: die „totalitäre Herrschaft (braucht) den Terror, um Prozesse von Geschichte oder Natur loszulassen und ihre Bewegungsgesetze in der menschlichen Gesellschaft durchzusetzen.“ (A. a. O., S: 244)
Nach Marx werden ökonomische Mechanismen wie der Zwang zur Kapitalakkumulation zwar durch Menschen exekutiert, aber nicht freiwillig, sondern der Kapitaleigner muss einen Großteil seines Mehrwerts bzw. Profits reinvestieren, um produktiv zu bleiben – bei Strafe des Verlustes seines Eigentums. Es sind „Regeln nur als blindwirkendes Durchschnittsgesetz der Regellosigkeit“ (Marx: K I, S. 117). Dadurch gilt für die ökonomisch Agierenden: „Ihre eigene gesellschaftliche Bewegung besitzt für sie die Form einer Bewegung von Sachen, unter deren Kontrolle sie stehen, statt sie zu kontrollieren“ (a. a. O., S. 89). Zwar spricht Marx auch von „Naturgesetz“ (ebd.), das sich „gewaltsam durchsetzt“ – doch dies ist nur metaphorisch gemeint, denn wenn die Menschen die kapitalistische Produktionsweise abschaffen, dann gelten auch ihre Zwangsmechanismen nicht mehr. Die Apologeten dieser Ökonomie deuten den ökonomischen Zwang als das „in ein Naturgesetz mystifizierte Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“ um (K I, S. 649).
Stalin hingegen wollte solche Gesetze wie das „Wertgesetz“, das auf dem kapitalistischen Boden unbeherrschbar ist, in der Staatswirtschaft der Sowjetunion bewusst anwenden, was bedeutete: a) er hat die marxsche Kritik an der kapitalistischen Ökonomie nicht verstanden, oder b) seine Ökonomie ist selbst Zwängen ausgesetzt, die nicht beherrschbar sind, wenn in ihr das „Wertgesetz“ wirkt.
Allgemein gilt für Marx: Es gibt keinen historischen Determinismus. Wenn er von „der Notwendigkeit eines Naturprozesses“ spricht, der den Kapitalismus negiert, dann ist dies ein Fehler oder wohlwollend gesprochen das „agitatorische Moment“ seiner Theorie (Bulthaup). Im „Manifest“ sprechen Marx und Engels als Ergebnis des Klassenkampfes von einer „revolutionären Umgestaltung“ oder „dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“ (MEW 4, S. 462). In der „heiligen Familie“ heißt es: „Die Geschichte tut nichts (…). Es ist vielmehr der Mensch, der (…) das alles tut“ (MEW 2, SA. 98). Arendt differenziert auch nicht zwischen praktischer Notwendigkeit (um die Not zu wenden), die nicht zwingend von statten geht, und theoretischer Notwendigkeit, für die es kein Ausweichen gibt (z. B. ein Naturgesetz wie die Gravitation).
Arendt kennt diese Zusammenhänge nicht, da ihr das theoretische Wissen fehlt ob ihrer Theoriefeindschaft. Deshalb quirlt sie irgendwelche Begriffe zusammen und gibt diesen Blödsinn mit dem Brustton der Überzeugung als unumstößliche Wahrheit aus, die es für sie doch gar nicht gibt.
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Falsche Differenzierung: Arbeit und Herstellen
In dem obigen Zitat (totaler Herrschaft 3, S. 243) bringt Arendt den angeblichen historischen Determinismus von Marx mit seinem Arbeitsbegriff als „biologisch-natürliche Kraft“ zusammen, um Marx zu unterstellen, seine Reflexionen über den Klassenkampf seien „letztlich in einem Naturgesetz verankert“. In ihrer Schrift „Vita activa“ hat sie diese Deutung ausgeweitet in ihrer fundamentalen Unterscheidung von Arbeiten, Herstellen und Handeln als „menschliche Grundtätigkeiten“ (Arendt: Vita activa, S. 14; siehe dazu auch 3. „Herstellen und Handeln“). Arbeit gehört ihr in Bezug auf Marx zum „biologischen Prozeß des menschlichen Körpers“, der „Stoffwechsel“ mit den „Naturdingen“, „welche die Arbeit erzeugt und zubereitet“ (ebd.). Dagegen stellt sie das Herstellen, in ihm „manifestiert sich das Widernatürliche eines von der Natur abhängigen Wesens“. Ihr Produkt ist von Dauer. Auch hier hilft zur Aufklärung solcher Behauptungen die Erkenntnis der Problematik. Im 3. Abschnitt von K I untersucht Marx den „Arbeitsprozeß“ ‚“unabhängig von jeder bestimmten gesellschaftlichen Form“ (K I, S. 192). Dabei bezieht er sich – auch gegen Idealisierungen – auf die Körperlichkeit der Arbeit, die in der „Leiblichkeit“ des Arbeiters betätigt wird, „Arme und Beine, Kopf und Hand“ (ebd.). Auf diesen Aspekt bezieht sich Arendt in ihrer selektiven Auswahl von Bestimmungen der Arbeit, indem sie von der geistigen Seite des Arbeitens abstrahiert: die Verwirklichung eines Zwecks in der Natur, den „zweckmäßigen Willen“ (a. a. O., S. 193). Zur geistigen Seite der Arbeit gehört die Fantasie ebenso wie die Reflexion der geeigneten Mittel für den Zweck des Arbeitens. „Die einfachen Momente des Arbeitsprozesses sind die zweckmäßige Tätigkeit oder die Arbeit selbst, ihr Gegenstand und ihr Mittel.“ (A. a. O., S. 193) Arbeit ist also im Gegensatz zu tierischer Tätigkeit keine „biologisch-natürliche Kraft“. Aus der Arbeit als überhistorische Voraussetzung des Menschen folgt auch keine „Entwicklung der Produktionsverhältnisse“, wie Arendt behauptet, also auch kein historischer Determinismus, der „letztlich in einem Naturgesetz verankert“ wäre, sondern diese Entwicklung hängt von den Herrschaftsverhältnissen ab, die Entstehung des Kapitalismus von der Gewalt, die immer auch zufällig ist (vgl. Marx zur ursprünglichen Akkumulation: K I, S. 741 ff.). Und sie abstrahiert von dem Produkt der Arbeit im Kapitalismus, nämlich „Werte“ als abstrakte Arbeit, „vergegenständlichte Arbeit in ihrer allgemein gesellschaftlichen Form“ (K III, S. 392) zu sein, ein Wesensbegriff bei Marx. Diesen Begriff kann sie ob ihrer philosophischen Position noch nicht einmal denken, geschweige denn verstehen.
Mit dieser Klarstellung fällt aber auch die Differenzierung der „menschlichen Grundtätigkeiten“ in Arbeiten und Herstellen. Jede Arbeit erzeugt ein Produkt und ist deshalb ein Herstellen. Ohne Arbeit ist ein Herstellen nicht denkbar – es sei denn man engt Arbeit auf eine „biologisch-natürliche Kraft“ ein, dann ist es aber kein menschliches Arbeiten mehr. Wenn Herstellen „eine künstliche Welt von Dingen“ schafft, so besteht diese letztlich aus Naturstoffen, die durch Arbeit aus der Natur gefördert und „zubereitet“ werden. Man stelle sich einen Bauern vor, der Getreide anbaut. Nach Arendt ist das Mähen des Getreides Arbeit, wenn daraus Mehl zum unmittelbaren Verzehr gemacht wird; zugleich kann das Stroh zur Reparatur des Gemäuers aus Lehm oder zu Strohmatten dienen, die eine „Dauer“ haben (vgl. Vita activa, S. 94), dann ist die gleiche „Grundtätigkeit“ Herstellen – welch eine Absurdität.
Die „menschlichen Grundtätigkeiten“ in Bezug auf die Differenz von Arbeit und Herstellen erweisen sich als terminologischer Bluff, um Marx‘ Geschichtsauffassung auf Natur zurückzuführen und sie dadurch mit der Naturkonzeption der „Rassentheorie“ der Nazis in Zusammenhang zu bringen. Um ihre falsche Analogie zu stützen, greift Arendt auch auf so äußerliche Argumente zurück, wie „daß Marx an den Darwinschen Forschungsergebnissen außerordentlich (?) interessiert war“ (totalitärer Herrschaft 3, S. 242) – als ob Interesse an einer wahren Theorie bereits ihren Missbrauch impliziere –, und wie Marx‘ Freund Engels ihn „den Darwin der Geschichtswissenschaft“ genannt hat –, als ob Engels die falsche Deutung beider Denker durch Arendt in Bezug auf den historischen Determinismus gekannt hätte.
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Der angebliche Widerspruch zwischen Analyse und Moral bei Marx
Gegenstand der marxschen „Kritik der politischen Ökonomie“ ist der Kapitalismus. Da in diesem der Mensch als „Animal laborans“ erscheint (Arendt: Vita activa, S. 93), verdreht Arendt die marxsche Kritik dahingehend, dass sie das, was die kapitalistische Ökonomie aus den Menschen macht, als die positive Bestimmung von Marx selbst ausgibt. Zugleich liest sie bei Marx, die Arbeit als Reich der Notwendigkeit solle zurückgedrängt werden zugunsten des Reiches der Freiheit (Marx: K III, S. 828). Daraus konstruiert sie einen Widerspruch im marxschen Denken zwischen „dem wissenschaftlichen Gesichtspunkt des Historikers“ und seinen „moralischen Anliegen“ (Arendt, a. a. O., S. 95). Marx war aber kein historistischer Historiker, der von seinen moralischen Implikationen abstrahiert, sondern ein Theoretiker, der das Wesen der kapitalistischen Ökonomie erkennen will und sich der moralischen Implikationen seiner Theorie durchaus bewusst war (vgl. Gaßmann: Autonomie, S. 226 ff.). Da Arendt ständig ihre falschen Vorstellungen auf Marx projiziert, kann sie aus ihrer Missdeutung den „eklatanten Widerspruch“ konstruieren, „der darin besteht, daß Marx in allen Stadien seines Denkens davon ausgeht, den Menschen als ein Animal laborans zu definieren, um dann dies arbeitende Lebewesen in eine ideale Gesellschaftsordnung zu führen, in der gerade sein größtes und menschlichstes Vermögen brach liegen würde. Ungeachtet seiner Größe endet das marxsche Werk schließlich mit einer unerträglichen Alternative zwischen produktiver Knechtschaft und unproduktiver Freiheit.“ (Arendt: Vita activa, S. 95) Die Verherrlichung des größten und menschlichsten Vermögens als Arbeit ist nicht Marx, sondern eine sozialdemokratische Deutung und die des Stalinismus der Industrialisierung in der Sowjetunion. Und dass Marx die arbeitenden Lebewesen in eine ideale Gesellschaftsordnung führen wolle, ist ebenfalls eine Missdeutung: Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nach Marx nur das Werk der Klasse selbst sein. Marx entwirft keine „ideale Gesellschaftsordnung“, sondern benennt vorsichtig einige Prinzipien als bestimmte Negation kapitalistischer Herrschaft und Ausbeutung (die es für Arendt gar nicht gibt). Das menschlichste Vermögen ist für Marx nicht die Arbeit, sondern seine Tätigkeit als Selbstzweck (z. B. in K III, S. 828), nicht unproduktive Freiheit, sondern produktive Freiheit, die nicht durch die Lebensnotwendigkeiten erzwungen ist. Verdrehter und ideologischer als Arendt kann man einen solchen eklatanten Widerspruch bei Marx gar nicht konstruieren. In dem obigen Zitat bestätigt sich die allgemeine Einsicht: Gibt es keine Wahrheit, dann kann man ungeniert alles behaupten, dann ist auch alles erlaubt.
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Arendt über „Mehrwert“
Die marxsche Theorie über den Mehrwert ist das eigentlich Neue, das Marx in die Ökonomiewissenschaft eingeführt hat. Diese Theorie schlüssig zu kritisieren, ginge an die Substanz seines Denkens. Wissenschaftlich redlich wäre es, aus der Immanenz dieser Theorie ihre Denkwidersprüche herauszuarbeiten, um die Mehrwerttheorie zu widerlegen. Das allerdings ist bis heute keinem gelungen. Die Theoriefeindlichkeit von Arendt und ihr platter Phänomenologismus verhindert nun, überhaupt seine Werttheorie zu verstehen. Wert ist für Arendt oberflächlich lediglich das, was Marx mit gegenständlichem Gebrauchswert meint. Ihre Reduktion des Denkens auf Phänomene lässt sie willkürlich an Äußerlichkeiten anknüpfen, um dann etwas zu behaupten, was dem Gegenstand der marxschen Theorie gar nicht erreicht, also diesem äußerlich bleibt. Eine immanente Kritik ist auf Grund ihrer philosophischen Position unmöglich.
Zunächst kritisiert sie in dem Abschnitt der „Vita activa“, in dem es um den Mehrwert geht, „die Identifizierung von Herstellen mit Arbeiten“ (S. 93), um Arbeit auf „die natürlichste (…) aller menschlichen Tätigkeiten“ zu reduzieren, was oben als falsch erwiesen wurde. Dadurch kann sie Marx unterstellen, der Mehrwert käme bei ihm aus dem „natürlichen Überschuß der Arbeitskraft“ (S. 93) – was schlicht eine Marx-Fälschung ist. Immerhin gibt sie zu in Bezug auf die Arbeitsprodukte des Arbeiters, „daß mehr von ihnen erzeugt sind, als der Arbeiter verzehren kann“ (S. 93). Da sie das Phänomen „eines wachsenden Reichtums“ (S. 96) in der Gesellschaft nicht leugnen kann, behauptet sie „den Arbeitern inhärente Qualitäten“ (S. 95), deren Erkenntnis „am Modell des organischen Lebensprozesses zu orientieren“ ist (S. 96). Die „Arbeit“, d. h. ihr reduzierter und naturalisierter Begriff der Arbeit, ist „die einzige Tätigkeit“, „die so ‚organisch‘ ist wie das Leben selbst, nämlich in der vom Lebensprozeß vorgezeichneten Bahn verläuft und frei ist von willentlichen Entscheidungen und vorgefaßten Zwecken.“ (S. 96) Diesen auf das Tierische reduzierten Begriff der Arbeit unterstellt sie dann Marx und identifiziert dessen Ansicht mit ihren Verfälschungen. „Die Voraussetzung, von der Marx ausgeht und die er niemals aus den Augen verliert, ist ‚daß die Menschen, die ihr eigenes Leben täglich neu machen, anfangen, andere Menschen zu machen‘, daß sie also ‚die Produktion des Lebens, sowohl des eignen in der Arbeit wie des fremden in der Zeugung‘ leisten. In diesen Sätzen aus der ‚Deutschen Ideologie‘ liegt sachlich der Ursprung seines Systems, den er dann im Verlauf seines Lebens und Denkens ausarbeitet, indem er an die Stelle der ‚abstrakten Arbeit‘ die ‚Arbeitskraft‘ eines lebendigen Organismus setzte und den ‚Mehrwert‘ auf den Kraftüberschuß zurückführte, der übrigbleibt, wenn die Reproduktion der eigenen Lebensmittel und der eigenen Lebens- und Arbeitskraft geleistet ist.“ (Arendt: a. a. O., S. 96) Und weiter heißt es: „In Marx‘ Werk wird daher deutlich, daß die neuentdeckte (?) ‚Produktivität‘ der Arbeit einfach darauf beruht, daß man Fruchtbarkeit und Produktivität gleichsetzte, so daß die berühmte Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte zu einem gesellschaftlichen Überfluß in Wahrheit keinem anderen Gesetz untersteht und an keine andere Notwendigkeit gebunden ist als an das uralte Gebot: ‚Seid fruchtbar und mehret Euch‘, aus welchem gleichsam die Stimme der Natur selbst zu uns spricht.“ (S. 97) Damit ist gleichsam die ökonomische Herrschaft seit der Antike, Sklaverei, Feudalismus und kapitalistische Lohnarbeit, die Arbeitsqual der Menschen und ihre Ausbeutung, nicht nur als natürliche erklärt, sondern auch noch durchs göttliche Gebot gerechtfertigt.
Über solchen reaktionären Blödsinn kann auch hier nur die Analyse der Problematik selbst aufklären. „Abstrakte Arbeit“ ist bei Marx die Durchschnittsarbeit, die bei einer bestehenden Produktivität notwendig ist, um verkäufliche Waren zu produzieren bzw. ihre Werte zu realisieren (Marx: K I, S. 53). Werte sind deshalb nichts sinnlich Erfahrbares, können also auch nicht von einem phänomenologischen Standpunkt aus verstanden werden. Deshalb versteht Arendt die marxsche Werttheorie überhaupt nicht. Nun ist die Arbeitskraft, die der Arbeiter gegen Lohn dem Kapital verkauft, selbst eine Ware, deren Wert der Lohn ist. „Um aus dem Verbrauch einer Ware Wert herauszuziehen, müßte unser Geldbesitzer so glücklich sein, innerhalb der Zirkulationssphäre, auf dem Markt, eine Ware zu entdecken, deren Gebrauchswert selbst die eigentümliche Beschaffenheit besäße, Quelle von Wert zu sein, deren wirklicher Verbrauch also selbst Vergegenständlichung von Arbeit wäre, daher Wertschöpfung. Und der Geldbesitzer findet auf dem Markt eine solche spezifische Ware vor – das Arbeitsvermögen oder die Arbeitskraft.“ (K I, S. 181) Der Wert der Arbeitskraft entspricht der Menge der Lebensmittel, die historisch bedingt der Arbeiter zur Erhaltung seiner Person und seiner Arbeitskraft benötigt. Die Anwendung der Ware Arbeitskraft in der Arbeit für das Kapital, ihr Gebrauchswert, die Werte, die sie erzeugt, sind aber etwas anderes als der Wert der Lebensmittel, die der Arbeiter als Lohn erhält. „Diese Wertdifferenz hatte der Kapitalist im Auge, als er die Arbeitskraft kaufte. Ihre nützliche Eigenschaft, Garn oder Stiefel zu machen, war nur eine conditio sine qua non, weil Arbeit in nützlicher Form verausgabt werden muß, um Wert zu bilden. Was aber entschied, war der spezifische Gebrauchswert dieser Ware, Quelle von Wert zu sein und von mehr Wert als sie selbst hat.“ (K I, S. 208)
War bei einem Fronbauern seine Ausbeutung offensichtlich, wenn er drei Tage auf den Feldern des Grundherrn arbeiten musste und drei Tage auf den Feldern, die er selbst besaß, wo er für sich arbeiten konnte, so ist im Kapitalismus die Ausbeutung nicht mehr offensichtlich. Unter dem Schein eines Äquivalententausches (Arbeitskraft gegen Lohn für die notwendigen Lebensmittel) ergattert der Kapitaleigner durch die Anwendung der Arbeitskraft einen Mehrwert, also ein Nichtäquivalent, den der Lohnarbeiter kostenlos abliefern muss, um überhaupt unter kapitalistischen Eigentumsverhältnissen eine Arbeitsstelle zu bekommen. Seine Ausbeutung, die jeder Lohnarbeit inhärent ist, wird unsichtbar. Phänomenologische Falschdenker können sich dann einbilden, der Mehrwert komme aus einer okkulten Qualität des Organischen.
Die Perspektive eines Kapitalisten erzeugt eine ähnliche Verschleierung, wenn er auf der Erscheinungsebene verharrt. Seine produzierten Waren haben einen Kostpreis, auf diesen schlägt er den in der Gesellschaft üblichen Durchschnittsprofit auf, diese Summe ergibt den Produktionspreis. Je nach seiner in der Branche bestehenden Produktivität kann er dann einen Marktpreis erwarten, der mal dem Durchschnittsprofit realisiert, mal darunter oder darüber sein kann (letzteres, wenn er produktiver als die Konkurrenz war). Auf jeden Fall gilt: die Summe der Profite in einer gegebenen Gesellschaft in einer bestimmten Zeit ist gleich der Summe des produzierten Mehrwerts. Woher der Mehrwert kommt, ist dem Kapitaleigner nicht sichtbar, er realisiert ihn nur im Verkauf seiner Waren. Also ist auch hier die Ausbeutung nicht sichtbar. Wert ist nach Marx ein Fetisch, weil er unbeherrschbar und damit auch unberechenbar ist. Dieser Fetischismus erreicht seinen Höhepunkt im Zinskapital, das nach der Formel wirkt: Geld – Geld + Mehr-Geld. „Im zinstragenden Kapital ist daher dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet, der sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld, und trägt es in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr.“ (Marx: K III, S. 404)
Dem Wert- und Mehrwertfetisch sitzen die Überlegungen von Hannah Arendt auf, wenn sie den „gesellschaftlichen Überfluß“ als Folge der Natur des Arbeiters mystifiziert.
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