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Bodo Gaßmann
Wie geht Kritik?
oder „Alter Rotzlöffel“
Wer seine Texte oder Medien der Öffentlichkeit preisgibt, muss auch die Spielregel vor dem Publikum akzeptieren. Diese lautet: Kritik. Kritik bedeutet zwischen wahr und falsch, gut und schlecht sowie schön und hässlich zu unterscheiden. Doch die Wahrheit ist immer konkret, eine allgemeine Wahrheit gibt es bestenfalls der logischen Form nach, etwa wenn eine Aussage am Satz vom zu vermeidenden Widerspruch gemessen wird. Wenn Wahrheit, die Übereinstimmung von Urteil und Gegenstand, immer konkret ist, dann sagt zum Beispiel ein Button unter einem Text im Internet wie „Gefällt mir nicht“ oder „Gefällt mir“ nichts über den Text aus. Es ist sozusagen nur ein Rülpsen nach dem Essen, das Behaglichkeit ausdrücken kann oder auch aussagt, es ist mir nicht bekommen. Der Gefällt-Button dient lediglich Manipulateuren, die das Konsumverhalten ausforschen, um dieses Herrschaftswissen für bessere ästhetische Präsentationen einzusetzen, sozusagen um den Konsumterror anzuheizen.
Überhaupt sind Meinungen etwas Beliebiges, die für die Philosophie seit 2.500 Jahren Gegenstand der Kritik sind. Erst wenn die Meinung mit Gründen gerechtfertigt wird, kann man sich über deren Wahrheit streiten. Aus der doxa (Meinung) kann dann eine orthedoxa („rechte Meinung“, dem heutigen Sprachgebrauch angemessener: „wahre Auffassung“) werden. Diese Überlegung wirft ein Licht auf die dreißig Meinungsforschungsinstitute, die unsere Kanzlerin regelmäßig anzapfen soll. Dies zeigt doch nur, in der politischen Führung geht es nicht um Sachpolitik, sondern die öffentliche Verkäuflichkeit dessen, was längst in den Großkonzernen entschieden ist. Demnach ist die Staatsführung noch nicht einmal der „ideelle Gesamtkapitalist“, als den noch Friedrich Engels den Staat ansah, sondern bloß noch eine Publik-Relation-Agentur der Sachzwänge der kapitalistischen Ökonomie (Regierung und Parlament, die „alternativlos“ (Merkel) der Marktwirtschaft dienen).
Auch die Forderung an die „Linke“, die DDR als „Unrechtsstaat“ anzuerkennen, hat überhaupt nichts mit der Wahrheit zu tun. In dem Wort „Staat“ wird gewöhnlich nicht zwischen Gesellschaft und der Staatsmaschinerie unterschieden. Selbstverständlich war diese Staatsmaschinerie, wie Armee, Polizei, Justiz, Staatssicherheit, Politbüro usw., ein Unrechtsgebilde, aber gehörte dazu auch das Theater von Brecht oder das in Nordhausen, wo ich u. a. Max Frisch‘ „Biedermann und die Brandstifter“ gesehen habe? Gehören dazu die Erfahrungen der Planer der Wirtschaft? Die Bürokratisierung der Ökonomie im Kollektivismus jenseits der Mauer, die allein der Macht der Parteiführung diente, gehört bestimmt zum Unrecht. In seiner Pauschalität jedoch, wie es von der politischen Kaste der Charaktermasken des Kapitals benutzt wird, ist es nur der Gesslerhut, mit dem man kritische, d. h. hier differenziert Denkende, vorführen will. Es ist ein Propagandawort, es gehört zu den „singnalhaft einschnappenden Wörtern“ (Adorno), ein Politikerjargon, der diffus Meinungen befestigen soll, ohne etwas Konkretes zu bezeichnen. Es ist der ideale Wortrülpser, mit dem ehemalige Anhänger sozialistischer Ideale wie Wolf Biermann als Wendehälse und Renegaten sich bei den Konservativen und Reaktionären aller Couleur anbiedern wollen. Die gesellschaftliche Vernunft bleibt dabei auf der Strecke.
Hinter diesem Begriff von Staat im „Unrechtsstaat“ steht die faschistische Ideologie vom „organischen Staat“, der Volk und Staatsordnung als geschlossene Einheit denkt, die auch der SED-Auffassung vom Staat entsprach, in der es keinen Raum für individuelle Initiativen gab. Es ist nicht die liberale Auffassung vom Staat als Maschine (Kant), dem die bürgerliche Gesellschaft gegenüber steht, die sich im Staat nur ein Instrument für ihr Allgemeininteresse geschaffen hat. Meint man mit Staat die Staatsmaschine, dann war die DDR ein Unrechtsstaat, meint man mit Staat den organischen Staat des bürokratischen Kollektivismus, dann war die DDR als Ganzes kein Unrechtsstaat – im Gegenteil, man legitimiert nachträglich die SED-Ideologie der sozialen, ökonomischen und politischen Einheit des Staates. Solche Klarstellungen sind aber bei Sonntagsreden unerwünscht und stören deren Intention, den politischen Gegner vorzuführen und sich selbst als Hort des Guten zu stilisieren.
Der tiefste Stand der Kritik findet sich jedoch beim Meinungspöbel, der unfähig ist zum Artikulieren von Gedanken, geschweige denn zum Selbstdenken. Das einzige, was er kann, ist pöbeln. Er schließt sich innerlich einer Meinungspartei an und sieht jeden als Feind, der anders denkt, um sein unverstandenes Weltbild zu stabilisieren oder seinen Glauben vor der „kränkelnden Kritik“ zu schützen. Da bestellt ein Daniel Niehoff seinen Newsletter der „Erinnyen“ ab. Als Kommentar fügte er an: „Darum“. Das ist sein gutes Recht. Es war ihm aber noch nicht genug. Anscheinend war er von den Texten der „Erinnyen“ so frustriert, dass er den Newsletter nochmals abbestellte, diesmal lautet der Kommentar jedoch: „Alter Rotzlöffel“.
Mehrere Jahre hatte er den Newsletter empfangen, sich mit kritischen Gedanken gequält, die nicht dem Mainstream entsprachen. Nun reicht es ihm. War er etwa zu den Islamisten übergelaufen und musste eine atheistische Zeitschrift hassen? Oder war er bei Neofaschisten gelandet und stieß sich an der sozialistischen Position? Oder war er an diesem Tag nur sexuell frustriert und musste seinen Unmut an jemand auslassen? Es ist müßig, darüber zu spekulieren; wenn man nichts Konkretes weiß, kann man auch nicht kritisieren. Wegen der Beleidigung kann man nur an Sokrates erinnern. Als er ähnlich angegangen wurde, sagte er zu seinen Schülern: Kann man einen Esel verklagen, wenn er einen getreten hat?
Über das Niveau dieses „Kommentars“ lässt sich doch etwas Konkretes sagen: Es ist das jenes SA-Mannes, der 1933 sagte, wenn er das Wort Kultur höre, dann entsichere er seinen Revolver. Also mein lieber „Alter Rotzlöffel“, bleib bei deinem Geschimpfe, dann brauchst du kein Brandstifter werden.
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