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Rezension

Die normativen Grundlagen der Kapitalkritik bei Marx

Eine Rezension des Buches von Frank Kuhne: Marx und Kant. Die normativen Grundlagen des Kapitals, Weilerswist 2022. Erste Auflage.
    Rezensent: Bodo Gaßmann

Die Rezension als PDF-Datei

Inhalt

Teil I

Einleitung

Das Thema

Grundrente und Werttheorie

Kapitalanalyse und die moralischen Grundlagen der Kritik

Einleitung zu Kant

Teil II

Das "Faktum der Vernunft"
Kritik des Begriffs "Faktum der Vernunft"
Der Mensch als Selbstzweck als Maßstab der Kapitalkritik

Teil III

Zum Begriff der Freiheit bei Kant und die Kritik daran mit Marx
Kritische Theorie und die Revolutionierung der Verhältnisse
Zur Beurteilung
Weitere erwähnt Literatur

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Teil I

Einleitung

Das Buch hat 597 Seiten, Paperback, es ist bei „Velbrück Wissenschaft“ erschienen und kostet 54,90 €.
   Frank Kuhne (Jg. 1956) ist Lehrbeauftragter am Institut für Philosophie der Leibniz Universität Hannover. Seine Forschungsgebiete sind klassische deutsche Philosophie, kritische Theorie und marxsche Theorie (Klappentext). Er hat über Marx promoviert („Begriff und Zitat bei Marx“ 1995) und sich über Kant und Fichte habilitiert („Selbstbewußtsein und Erfahrung bei Kant und Fichte. Über Möglichkeiten und Grenzen der Transzendentalphilosophie“ 2007)
   Kuhne hat bereits 2015 einen Essay zu diesem Thema veröffentlicht, der zur Zeit auf www.kritiknetz.de einsehbar ist. Dieser hat zum Titel: „Transformation der praktischen Philosophie in kritische Theorie der Gesellschaft? Zum Problem der normativen Grundlage des Kapitals und der Kritischen Theorie“ (hier zitiert unter Transformation“). Im Buch „Marx und Kant“ geht der Autor diesem Thema ausführlich nach.

Das Thema

Die heute vorherrschenden impliziten und expliziten philosophischen Positionen abstrahieren entweder von der Negativität der kapitalistischen Gesellschaft und werden schlecht idealistisch mit der Folge, dass sie deren leichenträchtige Ökonomie apologisieren, oder andere heben diese Negativität ständig hervor, wollen die Menschen zum Verändern provozieren, ohne konkret sagen zu können, wohin die Reise gehen soll, welches ihr Maßstab der Kritik ist. Diese vertreten einen platten Materialismus wie ihr Gegner, die Ideologen des Kapitals einen abstrakten Idealismus huldigen. Da die Schrift von Kuhne sich vor allem an bzw. gegen die „Marxologen“ wendet, die von Moral nichts wissen wollen, wird vom Autor vor allem ein ethischer Nihilismus kritisiert, weil dieser auch den kritischen Gehalt der Kapitalkritik negiert.
   Nach einer Einleitung, in der sich Kuhne mit Theoretikern auseinandersetzt, die jede moralische Implikation der marxschen Kapitalanalyse abstreiten oder diese falsch deuten, geht er im ersten Abschnitt auf Kant ein. Der zweite enthält einen „Exkurs zu Hegel“ und den größten Teil bildet der dritte Abschnitt, der sich ausführlich der marxschen Theorie widmet, der aber auf die vorhergehenden immer wieder zurückgreift. Der dritte Abschnitt ist nicht nur eine Darstellung und Reflexion der Ansichten von Marx über die Moral in ihrer Entwicklung und deren Einfluss auf die Kapitaltheorie, sondern eine Interpretation der marxschen Kapitalanalyse insgesamt, ohne Vollständigkeit zu beanspruchen. Studiengruppen, die das Kapital studieren, können hier die wissenschaftlichen Grundlagen dieses Gegenstandes erkennen, nicht nur das Normativitätsproblem. Das umfangreiche Textkonvolut enthält allerdings auch einige Wiederholungen von Gedanken und Zitaten. Eine Rezension kann aus der Fülle des Textmaterials nur einige exemplarische Themen hervorheben, die der Rezensent für wichtig hält oder die von ihm als problematisch angesehen werden.
   Da die Schrift von Kuhne sich vor allem an die Verächter der Moral wendet, sei auf einen Satz von Marx selbst hingewiesen, nämlich „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, S. 385). In diesem Zitat stecken moralische Begriffe wie Würde, Selbstzweckhaf­tigkeit des Menschen, Solidarität, Achtung vor dem anderen aufgrund seines Menschseins. Dagegen stehen Aussagen von Marx und Engels wie: „Die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral.“ (MEW 3, S. 229) Moral ist für sie in der „Deutschen Ideologie“ „Überbau“, „Ideologie“, d. h. hier angeblich falsches Bewusstsein (a. a. O., S. 26 f.). Solche Widersprüche in Bezug auf die Moral setzen sich bis zum Kapital fort, etwa Marx‘ Kritik an der bürgerlichen Moral (K I, S. 198 ff.) im Widerspruch zu seinem Maßstab der Kritik, wonach der Arbeiter (und auch der Kapitalist) „nur als Maschine zur Produktion von Mehrwert“ (K I, S. 621), als bloßes Mittel der kapitalistischen Ökonomie, nicht aber als Selbstzweck, wie es der kategorische Imperativ von Kant fordert, angesehen wird. Damit solche Widersprüche bei einem Denker geklärt werden können, ist es zwingend notwendig zwischen seinem Selbstverständnis und seiner Theorie zu unterscheiden. Kuhne schreibt: „Zwischen dem Denken eines Theoretikers und der Theorie, in die dieses Denken mündet, ist in dem Moment zwingend zu unterscheiden, in dem die Theorie nicht mehr nur Gegenstand eines methodischen, geistes-, motiv- oder ideengeschichtlichen Interesses ist, sondern die Wahrheitsfrage an sie gestellt wird. Eine Untersuchung, die sie stellt, wird die richtigen Argumente des Theoretikers von den falschen, von den Irrtümern und Selbstmissverständnissen unterscheiden müssen. Auf diese Weise treten Denken und Theorie auseinander.“ (S. 49, alle Seitenangaben ohne Titel beziehen sich auf „Marx und Kant“.) Und weiter schreibt Kuhne: „Dieser Arbeit geht es gar nicht um den Platz, den Marx und Engels – das Denken von Marx und Engels – in der Philosophiehistorie einnehmen. Vielmehr geht es ihr um das sachliche Problem, inwiefern die marxsche Kapitaltheorie als Kapitalkritik gelten kann und darüber hinaus auch als Modell einer kritischen Theorie der Gesellschaft.“ (S. 50) Wenn Marx als Autor „aus sachlichen Gründen wiederholt genötigt ist, „normative Argumente ins Feld zu führen“ (S. 49 f.), dann müssen aus Interesse an dem Wahrheitsgehalt der Kapitaltheorie diese normativen, speziell die moralischen Grundlagen thematisiert und begründet werden – etwas, das bei Marx fehlt. Kuhne sieht diese normativen Grundlagen in Bezug auf die Moral in der kantischen apriorischen Moralphilosophie vorliegen, die aber selbst noch einmal der kritischen Prüfung bedarf.
   Ist die Kapitalanalyse nicht nur eine positivistische „naturwissenschaftlich treu zu konstatierende“ Darstellung des Gegenstandes (vgl. MEW 13, S. 9), dann muss sie normative Kriterien haben für die Kritik und die angestrebte „Umwälzung“ (ebd.). Wenn die Analyse der kapitalistischen Produktionsweise nachweisen kann, und sie kann es, dass das Kapital nicht nur seine ökonomischen Bedingungen, sondern die ganze Gesellschaft unter sich subsumiert hat, dann können die Normen und Maßstäbe nicht aus „sozialer Geltungskraft“ aufzuweisen sein, wie heute Honneth meint, der behauptet, die „kapitalistische Marktwirtschaft“ enthalte ein „normatives Versprechen“, das es noch einzulösen gelte. (S. 51, Anm. 82) Dagegen haben Marxisten apriorische (metaphysische) Bestimmungen ganz bestritten. Bereits Korsch hatte 1930 geschrieben: „Eine Auffassung, welche der Theorie eine selbständige Existenz außerhalb der realen Bewegung zusprechen wollte, wäre selbstverständlich weder materialistisch noch auch nur hegelisch-dialektisch, sie wäre einfache idealistische Metaphysik.“ (Zitiert nach S. 438, Anm. 434) Diese historische Relativierung der Gesellschaftstheorie (und Philosophie) vertritt auch der frühe Horkheimer und viele andere, die ihm gefolgt sind. (Vgl. Gaßmann: Negation der praktischen Vernunft, 1. Exkurs, S. 185 ff.) Diejenigen, welche die Autonomie des Denkens als Metaphysik ablehnen, alles aus der „wirklichen Bewegung“ erschließen wollen, setzen die empirische Entwicklung absolut und betreiben dadurch selbst schlechte Metaphysik. Für sie ist dann die Geschichte das Weltgericht, und wenn diese auf Katastrophen hinaus läuft, dann können sie sich nur noch anpassen (vgl. S. 73). Gesellschaftskritik setzt einen Maßstab der Kritik voraus, der nicht aus der Negativität der Gesellschaft selbst genommen werden kann – deshalb ist er nur aus der Autonomie des menschlichen Denkens begründbar. Für Kant ist die Gesellschaft, auch wenn er ihre Negativität noch nicht völlig erkannt hat, für die praktische Vernunft Heteronomie, deshalb muss die Moral aus der Autonomie der praktischen Vernunft begründet werden. Das ist der entscheidende Grund, warum die kantische Moralphilosophie die normative Grundlage der Kapitaltheorie ausweisen kann. Ob solch eine Begründung möglich ist, muss die Argumentation zeigen, nicht aber die üblichen Vorurteile gegen eine vergangene Philosophie und ihre pauschale Abwertung als monologisches Denken, Bewusstseinssolipsismus oder Metaphysik. (S. 52; und vgl. dazu insgesamt Gaßmann: Manifest, Abschnitt A.)
   Der Bezug von Kant und Marx hat eine lange Tradition, man denke nur an die ethischen Sozialisten des Neukantianismus. So heißt ein Titel von Vorländer „Kant und Marx“ (1926), während Kuhne den Akzent verschiebt und sein Buch „Marx und Kant“ benennt. Die Verbindung der beiden Philosophen ist nicht als Philosophiehistorie zu verstehen, sondern ergibt sich systematisch.
   Zunächst, sagt Kuhne, besteht der gegenstandbezogene normative Aspekt auf einer Norm, die existiert, seit es Philosophie gibt, die als Voraussetzung jeder seriösen Wissenschaft auf dem Unterschied zwischen Wesen und Erscheinungen bzw. Schein besteht. Wenn die marxsche Kapitaltheorie wahr sein soll, dann muss sie diesen Unterschied machen. Marx selbst stimmt in seinem Selbstverständnis dieser Norm zu (vgl. K III, S. 825), sie muss aber auch an der Theorie selbst gezeigt werden. Jeder Marx-Leser weiß, dass die Werttheorie das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise ausdrückt.

Grundrente und Werttheorie

Diese Unterscheidung von Wesen und Erscheinung muss sich auch an Gegenständen bewähren, die nicht vom Kapital gesetzt sind, die Natur (und die Menschen). Bei der Grundrente ergibt sich dabei folgende Problemstellung: „(…) wie können Waaren, die keine Arbeit enthalten, Tauschwert besitzen, oder in andren Worten, woher der Tauschwerth bloßer Naturkräfte?“ (MEGA, ZKPÖ 139/MEW 13; S. 48) Lässt sich dieses Problem nicht theoretisch lösen, dann wäre „rückwirkend schon die erste Wertbestimmung und damit die ganze Theorie als falsch erwiesen“ (Kuhne: Marx und Kant, S. 274)
   A. Smith behauptet, dass „der Boden selbst zur Wertbildung beiträgt“ (S. 275). Dies widerspricht jedoch seiner Auffassung, der Wert wird durch die Arbeit gebildet. Dagegen behauptet D. Ricardo: Die Grundrente beruhe auf dem Extraprofit, der aus der Differenz von den schlechtesten Böden, die noch rentabel angewandt werden können, zu den besseren Böden entspringt. Doch diese Auffassung kann die Frage nicht beantworten, woher die Rente, die auch auf den schlechtesten Böden vom Grundeigentümer eingezogen werden kann, entspringt.
   Für Karl Marx lässt sich die Grundrente sehr wohl mit seiner Werttheorie in Einklang bringen. „Das private Grundeigentum tritt dem Kapital als ‚fremde Macht und Schranke‘ gegenüber, indem es verhindert, dass der agrikole Mehrwert in den Ausgleich der besonderen Profitraten aller Produktionssphären zur allgemeinen Profitrate eingeht. Die Differenz beider eignet sich das Grundeigentum als absolute Rente an.“ (S. 278) Kuhne zitiert Marx: „Die Rente bildet dann einen Theil des Werths, spezieller des Mehrwerths der Waaren, der nur statt der Capitalistenklasse, die ihn extrahirt hat aus den Arbeitern, den Grundeigentümern zufällt, die ihn aus den Capitalisten extrahiren.“ (K III 713/780; S. 278; die letzte Seite der Zitatangabe ist immer die aus der MEW.)
Meine Illustration:
   a) Die absolute Rente (die auf den schlechtesten noch anbaufähigen Böden eingenommen wird) wird vom Kapitalisten berechnet:
Kostpreis (einschließlich absoluter Rente) + Durchschnittsprofit = Produktionspreis.
   Unter der Voraussetzung: der eigentliche Kostpreis und der Mehrwert entsprechen der Durchschnittsproduktivität, dann gilt: Wert etwa gleich Preis, dann entspricht die absolute Rente plus dem Durchschnittsprofit = dem Mehrwert, aber nur der Durchnittsprofit, der dem gesamten Kostpreis aufgeschlagen ist, fußt auf der Ausgleichung der Profitraten. Die absolute Rente jedoch nicht, obwohl sie Teil des Gesamt-Mehrwerts dieser Betriebe ist. (Allerdings kann die Bodenrente teilweise auch auf der Senkung des Normallohnes der Landarbeiter und/oder Abzug vom Durchschnittsprofits der kapitalistischen Pächter beruhen, also die Rente erhöhen auf Kosten der Arbeiter und des Kapitalisten.)
   b) Die Differenzialrente auf besseren Böden: Es gelten die gleichen Voraussetzungen wie oben, dann folgt daraus: die Differenzialrente + Durchschnittsprofit = Gesamtmehrwert. Der Gesamtmehrwert ist größer als bei a), da b) produktiver ist (weniger Kosten bei der Produktion hat). Folge: Bei gleichem Preis für die agrikolen Produkte enthält b) einen größeren Anteil an Mehrwert, den sich Grundeigentümer und Kapitalist teilen.
   In Bezug auf das oben angesprochene Problem, ob die Grundrente mit der Werttheorie vereinbar ist, die Werttheorie also konstitutiv für das Wesen der kapitalistischen Produktionsweise ist, schreibt Kuhne: „Insofern die Revenueform Rente Teil des Mehrwerts des gesellschaftlichen Kapitals ist, ist sie werttheoretisch bestimmt; insofern sie durch den Eigentumstitel am Boden konstituiert ist, ist sie nicht vollständig in Wertbestimmungen aufzulösen, sondern gründet in Eigentumsverhältnissen, in denen die gewaltsame ursprüngliche Besitznahme des Bodens in die Form eines Rechtsverhältnisses gebracht ist. Insofern die Rente Teil des gesamtgesellschaftlichen Mehrwerts ist, ist sie quantitativ bestimmt; insofern dieser Teil des Mehrwerts qua Eigentumstitel am Boden angeeignet wird, fällt die quantitative Bestimmtheit der Rente außerhalb des Wertgesetzes. Sie ist willkürlich und abhängig von dem Kräfteverhältnis zwischen Kapitalisten und Grundeigentümern.“ (S. 281)

Kapitalanalyse und die moralischen Grundlagen der Kritik

Marx vertrat allgemein einen „demonstrativen Anti-Moralismus (S. 424; z. B. K I, S. 189 ff,). Dennoch kommen auch positive moralische Aspekte in der marxschen Kapitalanalyse vor. Diese äußern sich vor allem durch historische Zitate und die ästhetischen bzw. erzählenden Mittel der Darstellung. „Die Notwendigkeit der historiographischen Passagen resultiert aus einem doppelten Unvermögen der rein diskursiven Darstellung: Weder kann sie den Gegenstand theoretisch angemessen darstellen, noch kann sie ihn als einen präsentieren, der aus der Perspektive reiner praktischer Vernunft der Kritik verfällt. Dies gilt für den Einsatz ästhetischer Mittel insgesamt. Diese ästhetischen Mittel sind für die Darstellung konstitutiv. Die Darstellung im Kapital hat notwendig auch eine nicht-begriffliche, ästhetische Dimension. Ohne den Einsatz ästhetischer Mittel wäre sie ihrem Gegenstand weder angemessen noch könnte sie ihn als zu kritisierenden präsentieren.“ (S. 416) (Eine rein diskursive Darstellung liefe auf eine idealistische Konstruktion des Gegenstandes à la Hegel hinaus, Kapital, das sich selbst reproduziert, eine Kreis von Kreisen. Die historiographischen Passagen und die kritischen Quellenzitate sind sozusagen das materialistische Moment der marxschen Kapitalanalyse.)
   Die in Zitaten und erzählenden Passagen enthaltene Kritik lässt sich an einem Zitat aus K III belegen. Der Historiker A. A. Walton schreibt: Dass die Pächter, die auf den Boden, der in fremdem Eigentum ist, eine „übertriebene Bodenrente“ bezahlen, und dass die Eigentümer sich die dort vom Pächter errichteten Gebäude nach Ende des Pachtvertrages kostenlos aneignen. Tendenziell müsse der gesamte Hausbesitz im Königreich in „den Händen der großen Grundherrn“ landen. Die Grundherren vermieten zu „enormen Bodenrenten“. Dies sei ein “gieriges System“, also moralisch verwerflich. Fast die „gesamten Dockeinrichtungen unserer Hafenstädte befinden sich (…) in den Händen der großen Land-Leviathans“. Dieser Prozess sei eine “Usurpation“, d. h. widerrechtliche Aneignung (zitiert nach K III, S. 634 unten). „übertrieben“ ist die Bodenrente, weil sie auf dem Monopolpreis des Eigentümers beruht – das widerspricht den sonstigen Regeln der Marktwirtschaft. Gebäude werden kostenlos angeeignet – das widerspricht der vorausgesetzten Eigentumsordnung und dem unterstellten Äquivalententausch. Wenn die Bodenrenten enorm sind, dann verstoßen sie gegen das kaufmännische Herkommen. Das ganze System der Bodenrente ist ein „gieriges“, d. h. etwas moralisch Verwerfliches. Die Kritik an der Bodenrente kulminiert in der Formulierung, die Bodeneigentümer seien „Land-Leviathans“. Der Historiker Walton spielt damit auf den absoluten Herrscher von Hobbes an, dessen Sonderinteressen nicht kontrollierbar sind, der sogar ungestraft Verbrechen begehen kann (so sein Kritiker John Locke) – also völlig der bürgerlichen Machtbalance Englands und der Gewaltenteilung in ihr widerspricht, die doch eine Garantie der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse sein soll.
   Diese kritischen Begriffe sollen beim Leser Empörung hervorrufen (vgl. K I, S. 790 f.), sie sind aber als solche noch nicht begründet. Die kapitalistische Eigentumsgesellschaft kann auch nicht den Boden vergesellschaften, weil dann die Eigentumsverhältnisse insgesamt in Frage gestellt, also das kapitalistische System insgesamt gefährdet würde. Marx‘ Intention ist aber gerade dies: Das kapitalistische System und seinen integralen Bestandteil, die Bodenrente, als Ganzes in Frage zu stellen.
   Bei reflektierten bürgerlich eingestellten Apologeten kann Marx jedoch keine Empörung evozieren. Sie könnten mit Mandeville entgegenhalten, dass z. B. Gier wie andere persönliche Laster auch zu öffentlichen Tugenden werden, weil sie dem Fortschritt der Gesellschaft dienen. Und mit A. Smith könnte sie entgegenhalten: Wenn alle ihren egoistischen Interessen folgen, dann verwandelt sich dieser Egoismus durch die invisible hand des Marktes in den Fortschritt und allgemeinen Reichtum der Gesellschaft. (Vgl. die entsprechenden Kapitel in Gaßmann: Zur Geschichte der bürgerlichen Moralphilosophie.)
   Die Kritik an der Bodenrente und an anderen Phänomenen und Auswüchsen der kapitalistischen Produktionsweise wäre nur dann gerechtfertigt, wenn es einen unbedingten Maßstab gibt, der über den Interessen steht. Dieser kann allein aus der reinen praktischen Vernunft begründet werden. Dieser kritische Maßstab ist das moralische Gesetz, wie es Kant begründet hat: einen Menschen niemals bloß als Mittel, sondern immer auch als Selbstzweck zu behandeln. Marx selbst legt diesen Maßstab direkt in einigen Passagen seiner Kapitalanalyse zugrunde, so wenn er formuliert: In der kapitalistischen Produktionsweise ist „der Arbeiter für die Verwertungsbedürfnisse vorhandner Werte, statt umgekehrt der gegenständliche Reichtum für die Entwicklungsbedürfnisse des Arbeiters da“ (K I, S. 649). Der Arbeiter wird zum bloßen Mittel, der Zweck der Produktion ist nicht sein Zweck, dagegen steht die Idee, dass seine Entwicklungsbedürfnisse der Zweck der Produktion sein sollen, sodass er darin Selbstzweck sein kann.
   Dass die Kapitaltheorie diesen Maßstab nicht begründet hat, ist ihr nicht vorzuwerfen, es ist eine Einzelwissenschaft, die philosophische Voraussetzungen machen muss, aber in Marx‘ Selbstverständnis hat eine autonome Philosophie, auch nicht als praktische Vernunft, keine Bedeutung, wie aus seinem Nachwort zur 2. Auflage von K I hervorgeht: „Bei mir ist (…) das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“ (K I, S. 27) Dieser Auffassung widerspricht bereits Marx‘ Unterscheidung von Wesen (Werttheorie, die metaphysische Voraussetzungen hat) und Erscheinung bzw. Schein, ein Schein, der „das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle“ ist, also Ideologie im strengen Sinne darstellt (vgl. K III, S. 825; vgl. auch Kuhne, S. 432).

Einleitung zu Kant

Wenn Marx als Autor „aus sachlichen Gründen wiederholt genötigt ist, normative Argumente ins Feld zu führen“ (Kuhne, S. 49 f.), dann muss aus Interesse an dem Wahrheitsgehalt der Kapitaltheorie diese normativen, speziell die moralischen Grundlagen thematisiert und begründet werden – etwas, das bei Marx fehlt. Marx eigene Begründungen des moralischen Maßstabs seiner Kritik taugt nicht als wissenschaftlich begründete Moral, etwa sein von Feuerbach übernommener Begriff „Gattungssubjekt“ (vgl. S. 186 ff.). Insofern ist dies eine Leerstelle in seiner Theorie. Nicht dass er in seiner Einzelwissenschaft Ökonomie diese moralischen Voraussetzungen nicht begründet hat, ist ihm vorzuwerfen, sondern dass er sie auch in der Philosophie nicht ausweist. Nach Kuhne vertrat Marx in seiner Kapitalanalyse einen „demonstrativen Anti-Moralismus“ (S. 424), der sich in polemischem Zitieren von moralischer Ideologie äußert. Vgl. z. B. Marx: K I, S. 189 ff., wo er ironisch von angeborenen Menschenrechten spricht, die in der Distributions­sphäre gelten, nicht aber in der Produktionssphäre und deshalb in der Totalität der kapitalistischen Produktionssphäre nur Schein sind. Zwischen solcher berechtigten Kritik an moralischer Ideologie muss aber die wissenschaftliche Moral, so ergänze ich, unterschieden werden. Unter dieser verstehe ich das „Sittengesetz“, die Verallgemeinerungsregel der Maximen, und das Moralgesetz, die Selbstzweckhaftigkeit der Menschen. Gleichwohl ist der Maßstab der Vernunftmoral, wie sie Kant begründet hat, in der marxschen Kapitalanalyse anwesend, etwa wenn Marx explizit die Anwendung der Arbeiter als bloßes Mittel der Verwertung des Werts anklagt oder systematisch eine Mehrwerttheorie entwickelt hat, die den Arbeiter als Ausbeutungsobjekt des Kapitals erweist. Explizit wird die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen (2. Form des kategorischen Imperativs von Kant nach der GMS) als Ziel der revolutionären Veränderung angeführt (K III, S. 828). Dennoch gilt nach Kuhne: „Dass der Maßstab ihrer Kritik ein moralischer ist, kann mit Marx und den verschiedenen Marxismen natürlich nicht eingeräumt werden.“ (S. 425)
   Kuhne sieht diese normativen Grundlagen in Bezug auf die Moral in der kantischen apriorischen Moralphilosophie vorliegen, die aber selbst noch einmal der kritischen Prüfung bedarf, so insbesondere was Kants Freiheitsbegriff betrifft (siehe unten). Der entscheidende Grund für den Bezug auf die kantische Moralphilosophie liegt darin, dass Kant von der Autonomie des menschlichen Geistes ausgeht, der es erlaubt, die empirische Heteronomie allererst zu kritisieren. Moral muss deshalb apriorisch (vor aller Erfahrung sein; vgl. KrV, S. 353 f./B 375), allein aus der praktischen Vernunft des Menschen begründet werden, wenn sie wissenschaftlichen Charakter haben soll. (Dass diese praktische Vernunft auf den verallgemeinerten Erfahrungen der Weltgeschichte beruht, sei nur mit Hegel am Rande erwähnt. (Vgl. Gaßmann: Zur Geschichte u. ders.: freien Willens))
   Marx hat den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit (siehe etwa K I, S. 21 oder K III, S. 825). Eine wissenschaftliche Theorie besteht aus einem notwendigen Zusammenhang von universalen Urteilen, so auch die Kapitaltheorie von Marx über die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise. Diese Theorie gilt dem Anspruch nach solange diese Produktionseise existiert, und wenn sie einmal überwunden ist, gilt sie weiter für diese vergangene Epoche. Enthält diese Wissenschaft die Darstellung der grundlegenden Begriffe dieser Ökonomie (bei Marx fälschlich „Kategorien“ genannt) und zugleich deren Kritik als theoretische Negation, dann muss auch der Maßstab der Kritik wissenschaftlich begründet sein. Die Begründung eines moralischen Maßstabs liegt im Prinzip in Kants Moralphilosophie vor, gerade weil sie den Anspruch hat, a priori mit Notwendigkeit aus der reinen praktischen Vernunft zu begründen und nicht aus der kapitalistischen Heteronomie, in der jede bloß partikulare Moral funktional verwoben bleibt und insofern selbst der Kritik verfällt. Insofern sich Kant Illusionen über die Bedingungen der apriorischen Moral in der bürgerlichen Gesellschaft machte, ist seine Moralphilosophie selbst zu kritisieren. Marx ist zu kritisieren, weil er seinen normativen Maßstab nicht ausgewiesen hat, sondern widersprechende Prinzipien in Bezug auf Moral vertritt. Der erste Zweck der kapitalistischen Produktionsweise ist kein menschlicher, etwa die Bedürfnisbefriedigung, sondern ein verselbständigter: die Produktion von akkumulierbarem Mehrwert (S. 396). Dagegen folgt: „Die Einsicht, dass der objektive ökonomische Zweck, der das gesellschaftliche Ganze bestimmt, mit den objektiven Zwecken, die für das Individuum Pflicht sind, unvereinbar ist, ist die Einsicht in die moralische Notwendigkeit der praktischen Abschaffung des ökonomischen Zwecks. Die moralisch begründete Forderung lautet dann, dass an die Stelle des jedem Einzelnen objektiv vorgegebenen Zwecks der gesellschaftli­chen Produktion ein von den Einzelnen gemeinsam bestimmter Zweck ihrer gesellschaftlichen Produktion treten soll.“ Daraus folgt: „Die Kritik an den Verhältnissen ist vielmehr selbst eine moralische (…).“ (S. 374) Und in seinem Essay „Transformation“ heißt es: „Sind die lebendigen Subjekte Funktionsorgane eines allgemeinen, ‚übergreifenden Subjekts‘ namens Kapital, sind sie also wesentlich Mittel zum Zweck der Kapitalverwertung, dann ist das nur zu kritisieren unter der Voraussetzung, dass es eine Norm gibt, welche vorschreibt, dass Menschen niemals nur Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck an sich selbst zu betrachten sind, wie es in einer Variante des kategorischen Imperativs in Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten heißt (vgl. GMS BA 66 f.; vgl. KpV A 155 f.). Es ist also nur zu kritisieren unter der Voraussetzung der Selbstzweckhaftigkeit des Menschen.“ (Transformation, S. 19; das Zitat „übergreifende Subjekt“ ist aus Marx: K I, S. 169)
   Diese Wissenschaftlichkeit der Moralprinzipien ist zunächst nur behauptet, sie muss aber, um einsehbar zu sein, notwendig begründet sein. Dazu muss man wissen, dass Kant oft in seinen Texten pointiert argumentiert, um die jeweilige These stark zu machen (siehe z. B. unten über „Freiheit“ bei Kant). Also muss auch zwischen dem Theoretiker Kant und dem Wahrheitsgehalt seiner Moralphilosophie unterschieden werden. So gibt es heute sogar empiristische Deutungen seiner Moralphilosophie, die dem Geist seiner reinen praktischen Philosophie, die sich gegen Empirismus (Locke/Hume) und Rationalismus (Leibniz/Wolff) wendet, völlig widersprechen.
   Wenn der Interpret an der Wahrheit orientiert ist, dann kann er nur mit den Aporien Kants in dreifacher Weise umgehen. Erstens muss er fragen, ob die Aporie sich nur der pointierten Argumentation verdankt, dass andere Argumente bei Kant auch vorkommen (z. B. in Bezug auf die Freiheit). Zweitens muss er fragen, ob die Aporie auf dem Boden der praktischen Transzendentalphilosophie – mit und gegen Kant – lösbar ist (so die Frage der Deduktion). Drittens, wenn diese zwei Varianten nicht möglich sind, dann muss er eine Gegenposition auf der Basis des heutigen avancierten Standes der praktischen Vernunft entwickeln (z. B. über die Realisierungsbedingungen der Moralität). Dieses methodische Vorgehen lässt sich am „Faktum der Vernunft“ demonstrieren, das für den Kant der „Kritik der praktischen Vernunft“ zentral ist.

 

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