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Rezension

BodoGaßmann über das Buch von

Christoph Türcke: Lehrerdämmerung. Was die neue Lernkultur in den Schulen anrichtet, München 2016 (C.H. Beck-Verlag)

Dämmerung ist eine Anspielung auf Max Horkheimer, wie bei diesem hat auch der Titel von Türcke eine doppelte Bedeutung: Sie kann den Abend meinen oder den Morgen, den Abgesang oder den Widerstand.

Jedem ist bekannt, die Konkurrenz zwingt dem herstellenden Gewerbe und auch der Verwaltung und den Dienstleistungsbetrieben die permanente Steigerung der Produktivität auf. Was heute noch fortschrittlich ist, wird morgen veraltet sein. Hatte vor dreißig Jahren eine Arbeitskraft in ihrem Leben vielleicht zwei Berufe hintereinander, so hat sich dies heute vervielfacht. Wer nicht flexibel auf dem Arbeitsmarkt reagiert, wird ausgestoßen, gerät zu den für das Kapital Überflüssigen. „Computer ersetzen in Druck-, Metall- und Elektroindustrie, in Dienstleistung und Verwaltung ganze Berufssparten; sie ermöglichen wirtschaftliches Wachstum bei gleichzeitigen Massenentlassungen (jobless growth); sie erübrigten weit mehr Jobs, als sie neue schufen, lockerten sämtliche Arbeitsverhältnisse auf.“ (A. a. O., S. 10) Die Folgen sind Deregulierung der Arbeitswelt, Flexibilisierung der Arbeitskräfte und Individualisierung der Risiken. Wer die permanente Schulreform in den letzten Jahrzehnten verstehen will, muss sich diesen Sachverhalt vor Augen führen. Warum soll diese Flexibilisierung nicht auch für die Schule gelten? Also tun sich die Bildungspolitiker hervor und erfinden ständig neue Bildungsstrategien, die permanente Revolution in der Schule und sei es bloß irrationaler Leerlauf.

An dieser Tatsache setzt das Buch von Christoph Türcke an. Es sind vor allem zwei Wahnvorstellungen, an denen Türcke sich abarbeitet: den Kompetenzwahn und den Inklusionswahn, um anschließend in einem dritten Abschnitt die Rückbesinnung auf die wahre Rolle des Lehrers zu fordern.

Kompetenzwahn

Kompetenz war ursprünglich ein Verwaltungsbegriff (S. 19), ein Finanzbeamter hat die Macht und das Fachwissen z. B. die Buchführung in einem Unternehmen zu kontrollieren. Dieser Begriff wurde aber allmählich umgedeutet: Kompetenz ist bei Chomsky die Fähigkeit, aus einem begrenzten Regelwerk der Sprache quasi unendlich viele Sprachäußerungen zu generieren. Darin ist bereits seine Problematik enthalten: es kommt nicht mehr darauf an, was einer sagt, sondern nur dass er die Fähigkeit zum Sprechen (Performanz) hat, es kommt nicht mehr darauf an, ob jemand zum totalen Krieg aufruft oder ob er die Bergpredigt vor seinen Schäfchen beredt als Menschheitsideal propagiert. Kompetenz wird zur formalen Qualifikation, welche die Inhalte beliebig setzt. Später wurde dann das, was bei Chomsky noch Performanz hieß, selbst zur Kompetenz erklärt. Bildungspolitiker, die up to date sein und zugleich die Bedürfnisse der Wirtschaft bedienen wollten, griffen solche Begriffe wie Kompetenz begierig auf und einverleibten sie in ihren Bildungseklektizismus, indem sie ihn mit Irrationalismen ausschmückten wie „Handlungskompetenz“ (S. 30) (als ob nicht jedes Handeln von der Spontaneität und der Entscheidung des Individuums abhängt, also keine Fähigkeit als Habitus sein kann), „flexibles Kompetenzdesigns“ (S. 16), „Kompetenzmodellierung“, „Kompetenzprofile“ (S. 36). Wer solchen Blödsinn nicht mitmacht, ist für sie ein „Kompetenzkrüppel“. Hinter solchen Wortungetümen steht der Behaviorismus, für den Verhalten nur Reaktion auf Reize ist (S. 26), die etwas verfeinerte Kognitionswissenschaft und der Primitiv-Materialismus einiger Hirnforscher. Die Menschen sind für diese Theorien nichts weiter „als informationsverarbeitende Systeme“ (S. 27), eine Ansicht, die scheinbar den Vorteil hat, messbare Qualitätskontrollen (eine contradictio in adjecto) zu gestatten, hinter denen „selbstredend Verhaltenskontrolle“ steht (ebd.). „Der Kompetenzbegriff begann wie ein Virus umzugehen und in alle Richtungen semantisch zu streuen. Jede einzelne Lernleistung ließ sich als Kompetenz beschreiben, aber auch gesamtgesellschaftliche Zielbegriffe wie Mündigkeit, Freiheit, Autonomie schienen durch Kompetenzterminologie eine schärfere Kontur zu bekommen.“ (S. 30) Ist bei Kant Mündigkeit noch der Ausgang des Menschen aus seiner Abhängigkeit von Vormündern, so wird bei der überprüfbaren Kompetenz „Mündigkeit“ das Denken der Schüler auf das von Ratten reduziert, die sich wie im Versuchlabor durch Lob und Tadel für einen Weg entscheiden müssen und mit einem Stück Käse (Zensuren) belohnt werden. In diesen Zusammenhang gehört auch „Motivationskompetenz“ (zitiert nach einem Referat über Kompetenz). Andere motivieren setzt diese als bloße Objekte, tatsächlich werden Anregungen von Lehrer, äußere Zwänge usw., wenn bei anderen Handlungen daraus folgen sollen, immer durch deren Bewusstsein und über ihren Willen vermittelt, niemand muss dem Motivator (oder dem beredten Verkäufer) folgen. Vokabeln wie „motivieren“ usw. setzen den Schüler als Reiz-Reaktions-Maschine, nicht als freies Subjekt, das er ist oder werden will. Ebenfalls wird ausgeblendet, dass Sachwissen immer mehr enthält, als was mit „Kompetenz“ messbar ist, weil es überhaupt auf die Wahrheit einer Sache gar nicht mehr ankommen soll. Insgesamt läuft die neue Lernkultur auf eine „Niveausenkung“ hinaus. (S. 45)

Türcke kritisiert weiter den Einfluss der neoliberalen Bildungsideologie auf die Schule sowie einzelne Unterrichtsmethoden, die ständig empfohlen werden, aber keine Bildung hervorbringen, noch nicht einmal angemessen sind zur Qualifikation künftiger Arbeitskräfte, sondern es gilt: „Deregulierter Unterricht ist auch desorientierter Unterricht.“ (S. 141) Dies kann der Leser im Einzelnen in seinem Buch nachlesen, hier nur soviel: Aus der Kritik an der Paukerschule, die nur aus Frontalunterricht mit langen Monologen des Lehrers bestand, wird der Frontalunterricht, die Darstellung von Sachverhalten durch den Lehrer vor der Klasse mit anschließendem Einüben im Gespräch zwischen Klasse und Lehrer usw. nun völlig abgelehnt – die Lehrer sollen nur noch „Kompetenzcoaches“ sein, die Arbeitsblätter verteilen, auf Fragen der Schüler individuelle Hilfe leisten, so dass jeder nach seiner eigenen Lerngeschwindigkeit lernen kann. Die Übernahme von Inhalten durch die Schüler setzt eine Haltung des Lehrers voraus, der hinter seinen Lehrinhalten steht, das, was früher das pädagogische Eros hieß. Das aber ist nicht mehr gewünscht, wenn es bloß noch um Methoden geht und der jeweilige Inhalt, an dem sie eingeübt werden, gleichgültig und beliebig ist.

Inklusionswahn

Da die Sonderschulen viel Geld kosten, aber wenig erreichen für den Arbeitsmarkt, die Staatsverschuldung hoch ist und Schule zu den Nebenkosten der Verwertung des Werts gehört, haben Bildungspolitiker die Inklusion der Lernschwachen in die allgemeinen Schulen gefordert und setzen sie auch durch unter progressiven Schlagworten wie: „Nichtdiskriminierung“. Die Behinderten und Lernschwachen sollen eine „volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung (englisch: inclusion; französich: intégration) in die Gesellschaft“ (S. 62) bekommen und in das Bildungssystem auf allen Ebenen integriert werden. Doch: „Inklusion ist ein neoliberales Projekt, kein sozialkritisches oder gar ‚linkes‘.“ (S. 75) Tatsächlich spart der Staat viel Geld, während der pädagogische Erfolg ein Misserfolg ist. „Von gemeinsamem Unterricht kann keine Rede sein. Noch weniger aber vom Ende der Ausgrenzung. Der Klassenraum, der jeden aufnimmt und jeden anders sein läßt, ist ein Raum, in dem gerade Behinderte und Lernschwache ihr Anderssein ständig knallhart demonstriert bekommen. (…) Dann zeigt sich, daß die Ausgrenzung nicht etwa verschwunden ist, sondern sich auf diffuse, kaum mehr greifbare Weise vervielfältigt und verfeinert hat. Sie verteilt Kinder nicht mehr grob und übersichtlich auf verschiedene Räume und Schulformen. Um so schärfer jedoch zieht sie viele feine Grenzlinien durch den einen Inklusionsraum und macht gerade in ihm das Ausgeschlossensein hautnah spürbar. Daß es Menschen geben könnte, denen diese Gleichzeitigkeit von Einschluß und Ausschluß unerträglich ist, wurde nicht einkalkuliert. Inklusion ist doch das schlechterdings Gute. Wer soll darunter leiden? Wer soll da hinaus wollen?“ (S. 77)

Rückbesinnung auf den Lehrer

Gegen den Kompetenz- und Inklusionswahn setzt Türcke einen Bildungsbegriff, wie er aus der Philosophie von Kant bis Hegel und aus der Kritischen Theorie kommt. Bildung hat etwas mit Haltung zum Lernstoff, zur Welt und zu sich selbst zu tun. Inhalte sollten libidinös besetzt sein, damit sie sich in den Charakter des Lernenden integrieren, ein Teil seiner Person werden. Der Lernstoff ist mehr als das, was unter Kompetenz fällt. Die „neoliberale Propaganda“, auf die auch viele Linke hereinfallen aus Mangel an Wissen und Urteilsfähigkeit, will keine Bildung mehr, sondern funktionierende Arbeitskräfte. Dazu sollen bereits Schüler die Bereitschaft entwickeln, auf Knopfdruck oder Befehl von jedem Lernstoff sich sofort zu lösen und sich auf einen anderen zu werfen, der Stoff könnte ja morgen bereits überholt sein. (S. 147)

„Noch in ihrem heruntergekommensten Zustand ist Bildung ein Hoffnungsträger. Und noch in ihren höchsten Formen bleibt sie ein unscharfer Sachverhalt. Definieren wollen, was alles dazu gehört und was nicht, ist bereits der Versuch, sie in das Prokrustesbett der Kompetenzen zu zwängen – sie zu maschinisieren, würde man in moderner Terminologie sagen. Maschinen brauchen keine Bildung. Sie schöpfen aus keinem Fundus. Ihr Repertoire ist ein bestimmtes Programm. Solange sie funktionsfähig sind, spulen sie es ab. Sie sind absolute Könner, sie liefern Kompetenz pur. Aber es ist nichts dahinter – kein Sinn, kein Glück, keine Hoffnung, kein Trost. Menschen nur auf ihre Kompetenzen hin anzusehen heißt sie wie Maschinen anzusehen. Trostlos! Lehrer zu Kompetenzbeschaffungsgehilfen reduzieren heißt sie entwürdigen. Das müssen sie sich nicht bieten lassen.“ (S. 148)

Es liegt an den Lehrern, ob sie sich der neoliberalen Schulpolitik beugen und die Dämmerung ihres Berufes zur Nacht werden lassen – oder ob sie Rückgrat zeigen, ihrem Berufsethos folgen, Bildung zu vermitteln, die auf Mündigkeit der Schüler und auf ihre ganze Person abzielt und damit der Dämmerung den Tag folgen lassen.

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Letzte Aktualisierung:  27.10.2016

                                                                       
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